Musik

Albedo – Musik zur Klimakrise

Die Albedo ist das Mass, in dem eine Oberfläche Sonnenstrahlen reflektiert – Schnee hat eine Albedo von 0,9, wirft also fast alles Licht zurück, Wald hat eine von 0,05. Die Albedo ist in den letzten Jahrzehnten um bis zu acht Prozent gesunken. Klimawissenschaftler nehmen das als Zeichen für die Klimakatastrophe – je weniger Rückstrahlung desto mehr Weltuntergang. Doch so streng wie die mathematisch-physikalischen Bestimmungen der Kosmologie sind die der Musik keineswegs. Die sieben Blasmusikanten der Kapelle «Federspiel» vertrauen dem schön weichen Klang des Wortes «Albedo», sie fliegen aus zu Bildern und Stimmungen, zu Dunkelheit und Trauer, zu Licht und Zuversicht. Choräle in allen möglichen Konstellationen und Farben, immer wieder mit Dämpfer gespielte Trompeten, schmelzende Balladen aus der Trompete und bei aller Lust zum vollen Gebläse immer Rücksicht, damit die Klarinette nicht verloren geht – das stimmt diese Blechmusik fein und virtuos. «Federspiel» bedient sich bei der Blechmusik der Schützen, bei den Beständen der grossen Opern, von denen ja die meisten kräftige Blechmusik brauchen, wenn der Held über die Bühne reitet, und die Musikanten erfinden freilich viele eigene Klänge. Ganz trüb ist die Welt trotz der abnehmenden Albedo nicht – ein Wiegenlied schliesst als zehntes Stückli die CD ab, komponiert von einem Federspieler, der träumte Vater zu werden und es schliesslich geworden ist. Köbi Gantenbein

Federspiel
Albedo

o-tone music 2022

www.o-tonemusic.de
www.feder-spiel.net

Zwei Engel auf Erden

«Zwei Engel uf Ärdä» – ob das Stücklein auf ihrer neuen CD «Fiddelgüggs» ihr Selbstbild ist? Heiter und ironisch gebrochen zwar, aber immerhin: Anita Dachauer, Schwyzerörgeli und Jodel, und Lisa Travella, Geige. Zusammen unterwegs als Duo Campanula ist ihr Engellied eine schöne Zusammenfassung ihrer Musik. Zwei Musikerinnen falten zwei Temperamente aus, die hell und scharf klingende Geige und die melancholischen Läufe und Akkorde verschiedener Örgeli, sie verwickeln die Töne ineinander, sie entfernen sich und spielen gegeneinander, sie springen miteinander um die Wette, die eine führt die Melodie, die andere setzt den Rhythmus darunter, oft das Örgeli, immer wieder die Geige. Welch spielerische Freude! 13 Stückli, 13 Variationen der beschwingten Freude – Mazurka, Walzer, Gigue, freie Fantasie der Töne ohne Bindung an die Traditionen der Volksmusik zwischen den Alpen, Finnland und Irland. Zuhör- aber auch Tanzmusik. Anita Dachauer und Lisa Travella haben gelernt, ihre Instrumente nicht nur zu spielen, sondern auch zu bauen. Und ihr Duo-Name hat wohl einen Hauch Absicht – die Campanula ist eine Pflanze mit Heilkraft. Wer Halsweh hat, der kann aus ihrer Blüte Tee machen. Und so erforscht Anita Dachauer zurzeit nebst dem Herstellen des Klangs auch die heilende Kraft der Musik; nicht nur Freude sollen Engelstöne machen, sondern auch Gesundheit stiften. Köbi Gantenbein

Duo Campanula
Fiddelgüggs

www.duo-campanula.ch

Im Rhythmus von Alp und Autobahn

Ansaugen, verdichten, arbeiten und ausstossen. Dabei macht die Kurbelwelle zwei Umdrehungen – so funktioniert der Viertaktmotor. Er ist die Essenz unserer Lebensform. Ob der Aebi-Traktor auf der Alp oder der alte Porsche auf der Autobahn, beide fahren im Viertakt-Rhythmus. Endlos. Aber auch ein Hackbrett, Bass, Cello und Akkordeon können Töne ansaugen, sie verdichten, mit ihnen arbeiten auf weiten Ausflügen in die Klangwelt und sie schliesslich ausstossen zu zauberhafter und vielseitiger Musik. Nayan Stalder, Laurin Moor, Kaspar Eggimann und Raphael Heggendorn heissen die Traktor- und Porschefahrer. Sie schöpfen auf ihrer CD «Siebesiech» aus dem Groove des strengen Viererrhythmus, vermischen ihn mit dem Dreiertakt, scheuen Synkopen nicht, brausen über die Autobahn und knattern dem Hang entlang. Der gemeinsame Nenner ihrer Musik wird vom Hackbrett betont – Volksmusik aus dem Alpenraum, aus Osteuropa, aus aller Welt. Und wir freuen uns hörend, was der Groove mit singender Musik zu tun hat, und wie wichtig der sichere Takt ist, über den diese vier Musikanten traumwandlerisch verfügen. Köbi Gantenbein

Viertaktmotor
Siebesiech

Live aufgenommen im Restaurant «Heitere Fahne» in Wabern
Narrenschiff 2022

www.viertaktmotor.ch

Wie im Zirkus

Helvetikuss ist die Musik zum «Circus Lapsus Helveticus», einem turbulenten Zirkus mit dem Komikerduo Lapsus. Und so klingt sie auch: ein Graus für ohrensteife TraditionalistInnen, aber oft überraschend, vielfach kreativ, fast immer lustig und immer unterhaltsam. Eine wilde Show mit Anspielungen auf alle Seiten: Mag die Songline Jodel und Tänze umschnüren, verknopfen sich Jazz und Balkanmusik dazu. Das alles wird humorös leicht vorgetragen, die zehn MusikerInnen sind Artisten. (gh)

Helvetikuss

Landtwing Music 2021

www.mathiaslandtwing.ch

Virtuos und gut

Zum neuen Jahr begrüsst euch hier

Ein Virtuos auf dem Klavier

Er führ’ euch mit Genuss und Gunst

Durch alle Wunder seiner Kunst.

In 15 Bildern führt der Zeichner Wilhelm Busch vor, wie ein Pianist sein Klavier so bearbeitet, dass seinem Zuschauer Hören und Sehen vergeht. Vom «Silentium» geht es über die «Fuga del diavolo» bis zum «Finale furioso» und zum «Bravo bravissimo». Nur Niccolò Paganini war auf seiner Geige schneller, nur John Coltrane am Saxofon wilder oder beides zusammen die Kapelle «Gläuffig». Mathias Landtwing, Klarinette, Fränggi Gehrig, Handorgel, Lukas Gernet, Klavier, und Primin Huber, Kontrabass, sind die Virtuosen. Sie führen Tempo und Technik vor, als wollten sie jede und jeden und sich selber täglich einmal überbieten. Wie das geht, können wir auf der CD «Gesellenwanderung» hören: Durch 14 Stückli vom Schottisch über den Choral, den Walzer bis zum Klezmer brettern die vier Gläuffigen. Dann und wann sagen Musikanten, deren Finger nicht so gläuffig über die Klappen und Saiten rasen können: «Virtuos sind sie, Hochleistungssportler halt, aber musikalisch?» Landtwing & Co. zeigen musikalische Grösse, so wie es der Jazzer Charlie Parker konnte oder Ritchie Blackmore auf seiner Gitarre, die er fürs Tempobolzen mit der Rockkapelle «Deep Purple» eigens bauen liess. Alle sind sie virtuos – und musikalische Wundertüten – rührend und schön. (Köbi Gantenbein)

Gläuffig

Gesellenwanderung

Phono Vertrieb 2021

www.glaeuffig.ch

Party

Christine ist fünfundsechzig. Doppelbock ist zwanzig. Wir gratulieren! Als Gschänggli kaufen wir ihre neue CD Froh & Roh. Wer am Fest dabei sein wird, kann sich auf Kunterbuntes freuen: Märschli, Zäuerli, Jodellied und Jodelblues, Folkpop, Liederperlen, auch ein Gstanzln, Jutz und Tanz. Dabei wärmt der Gesang von Christine Lauterburg das Herz und gruselet den Rücken runter. Das Guggisberglied ist treibender Punk. Doppelbock ist die sympathisch rhythmische Pflege alten Liedguts abseits der Folklore, gespielt von ebenso sympathischen Freunden, die ungehemmte Freude am Musizieren haben. gh

Froh & Roh
Doppelbock mit Christine Lauterburg


Narrenschiff 2021
www.narrenschiff-label.ch
www.doppelbock.ch

Qreuz und kwer

Ein Cello, zwei Schwyzerörgeli, ein Sopransax, ein Waterphone, der Albin und die Kristina. Alles Eigenkompositionen. Albin Brun hat dem Schwyzerörgeli die Melancholie beigebracht, da passt Kristinas Cello dazu. Die Instrumente werden qreuz und kwer eingesetzt und die Stückli laden ein, von Gipfel zu Gipfel zu hüpfen, ein Ringeltänzli zu drehen, am See entlang zu schlendern, einem Bussard nachzuschauen, einen tiefsinnigen Gedanken zu spinnen. Heimelige Melodien ohne Heimattümelei, Schweiz ohne Bratwurst und Zeltplanegestank. Doch manchmal sind die komplexen Melodien und Rhythmen Bruns so perfekt gespielt, dass die doch leichtfüssige Musik etwas akademisch klingt. Wir raten daher, Konzerte zu besuchen. gh

MIDNANG
Albin Brun & Kristina Brunner


Eigenvertrieb 2020
www.albinbrun.ch
www.evelyn-kristina-brunner.ch

Kinderfreude

Wer kennt nicht die Fränzlis da Tschlin? Wie sie hüpfen, springen, tirilieren, fabulieren und spielen, als gäbe es keine Grenzen, seit über dreissig Jahren. Und nun dies: Sie singen. Die Fränzlifrauen wie die Nachtigallen, die Fränzli-Väter und der Fränzli-Onkel als Heldenbariton und Matadorenbass. Und mit ihnen Corin Curschellas. 55 «Chanzuns rumantschas per uffants» haben sie zusammengestellt zu einem reichen Spiegel der Volksmusik aus Romanisch Graubünden. «Dai & Hop!» heisst die CD. Neben der Musik fasziniert mich die Ideologie dieser Suite der Kinderkunst. Das behütete Kind wurde vom städtischen Bürgertum im 19. Jahrhundert erfunden. Erst die revidierte Bundesverfassung von 1874 hat Kinderarbeit eingeschränkt. In den Alpen galt sie noch fünfzig Jahre später als normal. Das Kind als Musik- und Kunstprojekt ist eine neumodische Erfindung. «Chanzuns rumantschas per uffants» sind für mich so auch ein Trost. Neben den harten Lebensbedingungen der Kinder in der Generation noch unserer Eltern, neben den Verdingkindern und den Kindern der Landstrasse, neben den auf den Alpen als Knechtli und Batzger ausgebeuteten Buben soll es auch die singenden Kinder gegeben haben, und gab es sie nicht, so stelle ich mir vor, es hätte sie gegeben. Köbi Gantenbein

1, 2, 3! Dai & Hop!
Corin Curschellas und Ils Fränzlis da Tschlin


R-Tunes 2020
www.fraenzlis.ch
www.corin.ch

Steirische Orgel mit Streichertutti

Die Handorgel brachte im 19. Jahrhundert endlich etwas Effizienz in die Tanzmusik. Ein Wirt musste kein Quintett mehr holen und verköstigen, sondern der Handorgler spielte für fünf zu einem Lohn. Herbert Pixner kehrt die Geschichte mit seiner «Alpensymphonie» nun um. Der Südtiroler Virtuose an der diatonischen oder steirischen Harmonika, wie die grosse Schwester des Schwyzer Örgelis ausserhalb der Schweiz heisst, fährt das ganz grosse Drama auf. Er sitzt mit seiner Orgel umringt von den Berliner Symphonikern und seinen Musikanten. Mit diesem Riesenapparat schwelgt er durch Klangmeere und Tonstürme. Ich wähne mich in einem Abenteuerfilm, in dem der Aufstieg und Niedergang von Ben Hur, Ludwig XIV und Napoleon im Multipack mit Gitarrenhall, Streichertutti und Paukenwirbel gefeiert wird. «Symphonic Alps live» nennt Herbert Pixner aus Meran sein Tournee-Grossunternehmen. Das weist erstens darauf hin, dass seine Musik vor allem von Bühnenpräsenz und -spektakel lebt. Und zweitens, wie dehnbar und offen Volksmusik aus den Alpen geworden ist – Flamenco, Rock ‘n’ Roll, Blues, Alpenschlager, Manouche, Deep Purple, Johann Strauss und Brahms – alles gut für eine Collage. Da haben Polka, Schottisch, Galopp und Mazurka keinen Platz mehr – und die steirische Handorgel ist auch ganz einsam im Tongewitter. Köbi Gantenbein

Herbert Pixner Projekt meets Berliner Symphoniker
Symphonic Alps Live

Doppel-CD

Three Saints Records 2020
www.threesaintsrecords.com

Auf dem Markt

Ob quer oder Schnitt oder Querschnitt – alles passt zu dem Sampler vom Alpentöne-Festival 2019. Ein Schnitt mit der Machete durch den bunten Musikstrauss von über 50 Konzerten, ein Klangbouquet von aufrecht bis quer. Die Alptöne-Konzerte sind so etwas wie ein Flanieren über den Markt aktueller Alpin- und Neuer Volksmusik, man trifft alte Bekannte sowie unabsichtlich Ignorierte aus der Szene. Längst nicht alles alphornet von Schweizer Felswänden, ebenso geraten skandinavische, italienische und iranische Tonstücke ins Fondue. Auch wenn nicht alles gefällt, interessant ists allemal. gh

Alpentöne
Ein Querschnitt durch das Festival ’19


Alpentöne 2019
www.alpentöne.ch

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