Alp-Vorstellungen von StädterInnen

Als Abschluss meines Geographiestudiums an der Universität Bern habe ich 2001 eine Diplomarbeit mit dem Titel „Von StädterInnen, die z’Alp gehen“ verfasst. Dabei begleitete ich elf städtische ÄlplerInnen von der Stadt auf die Alp und wieder in die Stadt.


                        
                            
                        
                            
                                
                            
                        
    


                        
                    

                    
                

Für fünf Personen war es der erste Alpsommer. Ich führte Leitfadeninterviews durch und wertete diese anschliessend qualitativ aus. Eine Intention von mir war, herauszufinden welche Alp-Vorstellungen jene Menschen haben und wie sich diese durch die Alp-Erfahrung verändern. Die folgenden Zeilen entstammen in leicht veränderter Form meiner Arbeit und betreffen die Alp-Vorstellungen von NeuälplerInnen ein paar Wochen vor dem Alpaufzug.

AlpanfängerInnen verfügen nicht über konkrete Alpbilder, es sind vielmehr Fragmente, welche irgendwie in einem Moment der Achtsamkeit auftauchten und auf guten Nährboden stiessen, so dass sie „wachsen“ konnten, sich zusammenfügten und schliesslich die Entscheidung, selber zur Alp zu gehen, mitbegründeten.

Die Schweiz ist ein Alpenland und Familie Schweizer aus dem Unterland fährt in die Berge, um Bekannte zu besuchen, Urlaub zu verbringen und Freizeitaktivitäten durchzuführen. Zwangsläufig kommt mensch da einmal auf einer Alp vorbei. Die Alpen sind im kollektiven Bewusstsein der Gesellschaft präsent. Da gibt es Heimatromane, die auf der Alp handeln, Filme mit Titeln wie „Auf der Alm da gibt`s kei Sünd“, in alpiner Verpackung daherkommende Werbebotschaften für etwelche Produkte, in Museen können rekonstruierte Alpsennereien betrachtet werden und am Stammtisch wird über die Subventionierung der Alpwirtschaft debattiert. Die Alp ist symbolisch überhöht, im Kontext ihrer geringen gesamtgesellschaftlichen ökonomischen Bedeutung oder im Verhältnis, wie viele Menschen wirklich z’Alp gehen.

Die Interviewpersonen kriegen auch von Freunden, die z’Alp gingen, ein Alpbild mit. Dies basiert nicht auf eigenen Erfahrungen. Das von Bekannten gehörte Alpwissen – das an und für sich schon ein Konstrukt ist – wird mit den eigenen Ansprüchen weiterverarbeitet.

Eigentlich haben die Alpneulinge vor allem Abstraktionen, Interpretationen und Assoziationen zur Alp im Kopf. Die Alp ist ein geistig beladener Vorstellungsraum und kann somit eine Projektionsfläche für eigene Wünsche sein. Alpbilder sind voller Erwartungen. Für meine Untersuchungsgruppe ist die Alltagswelt die Stadt, also entstammen die Wünsche daraus. Sehr oft ist die Alp das grundsätzlich andere zur Stadt.

Individuell geprägte Fragmente und Aspekte aus dem kollektiven Bewusstsein sind unentwirrbar miteinander verknüpft und beeinflussen sich gegenseitig. Eine Interviewperson weist auf den Facettenreichtum und die Vielfalt der Alpbilder hin:

„Vielleicht gerade weil es für jeden etwas anderes bedeutet. Weil vielleicht viele genug haben vom Arbeitstrott und um zu schauen, ob sie dort zu recht kommen, mit welcher Illusion auch immer... ich denke da sind viele Bilder.“

Im folgenden habe ich die verschiedenen Alp-Vorstellungen nach Themen gegliedert.

Die Alpprodukte und der Einblick in die Landwirtschaft

Für einige sind die Alpprodukte und deren Erzeugungsprozesse wichtig. Eine Person erinnert sich an einen Keller voll Käse auf einer besuchten Alp. Das war wie ein kleines Wunder. Nun möchte sie auf der Alp lernen, wie diese Lebensmittel hergestellt werden. Die Arbeitsabläufe dazu sind einsichtig, durchschaubar, das eine ergibt sich aus dem Vorangehenden. So macht das Lernen Spass.

„Und auch ein bisschen... du gewinnst irgendwie die Milch und dann verarbeitest du sie und dann im Speicher unten hat es dann plötzlich so Käse... Das lernen, lernen wie man das alles macht, ein Stück weit auch das Bauern lernen.“

Die Alp kann auch eine Schnupperzeit für die Landwirtschaft allgemein sein, wie im letzten Satz angedeutet wird. Drei AlpanfängerInnen erwähnen jedenfalls, dass sie mit der Alp auch mehr Einblick in die Landwirtschaft erhalten möchten. Sie könnten sich eventuell sogar einen beruflichen oder mit ihrem bisherigen Beruf kombinierten Einstieg in die Landwirtschaft vorstellen.

Die Alp als ein beschaulicher, ursprünglicher und natürlicher Ort

Dass die Alp ein ruhiger, besinnlicher Ort sein soll, wird des öfteren geäussert. Eine angehende Älplerin erinnert sich an Besuche auf der Alp in ihrer Kindheit.

„Ich fühlte mich immer nur wohl, so ruhig irgendwie. Wir nahmen nie viel mit, aber wir waren immer beschäftigt, du brauchtest all den Kram von zu Hause gar nicht, weil es dort alles hatte.“

Da wird nicht viel gebraucht, um glücklich zu sein. Auf der Alp sind die Menschen viel mehr selber verantwortlich, was mit der Zeit gemacht wird. Die urtümliche Alpenwelt kann sie zum Beispiel zu künstlerischen Taten animieren.

„Für kulturelle Sachen und Ausgang bist du halt schon weg. Oder es sei denn, du machst Kultur selber, indem du ein Bild malst oder etwas dichtest. Dort hast du dann deine Ruhe, wo du kreativ sein kannst.“

Einige Interviewpersonen sehnen sich nach weniger Komplexität. Die Alp soll nun ein Ort sein, wo die Zusammenhänge klar und einsichtig werden.

„Ich möchte eben doch eher das Einfachere. Alles andere habe ich ja hier. Weil es eben auch schön ist und gut tut, wenn man zum Essen kochen zuerst noch Holz spalten und Wasser holen muss.“

Auf der Alp möchten die Interviewpersonen mit der Natur in Kontakt kommen.

„Ich denke, du bist sehr eng mit der Natur, sehr in der Natur drin, du bist in sehr nahem Kontakt mit diesen Tieren. Was ich noch weiss, sie kannte die Tiere bei Namen, das imponierte mir.“

Noch weiter geht die folgende Interviewperson. Sie spannt den Argumentationsbogen historisch zurück. Früher als die Menschen noch Selbstversorger waren, da war das Leben noch gut. Mensch lebte in harmonischer Eintracht mit der Natur. Die Alp wird als kleines Überbleibsel davon angesehen.

„Ursprünglich war es ja so, dass man noch einen Garten und Vieh hatte und hat sich quasi selber ernährt. Und es war fast ein Kreislauf und heute ist man sehr weit von dem weg. Man geht arbeiten, man isst in der Mensa oder sonstwo und ist so wie distanziert von... diesem bewussten Herstellen, Kochen, in diesem Kreislauf sein. Zurück zu einer anderen Lebensweise, das hat wohl auch eine Anziehungskraft.“

Die Alpbilder sind von weiteren nostalgischen Elementen geprägt. Die Alp soll einfach eingerichtet sein. Drei der fünf Alpneulinge erwähnen explizit, dass ihre Vorstellungsalp nicht mit einer Strasse erschlossen ist, ansonsten könnten sie ja direkt auf den Bauernhof gehen, kommentiert eine Interviewperson. Es soll eben alles andere sein, als das, was sie in der Stadt zur Genüge vorfinden.

„Wenn schon eine Alp, dann richtig. Es soll noch etwas rudimentär sein, also nicht extrem eingerichtet. Das ist schon das, was ich suche. Das hat sicher auch noch mit Idealismus zu tun. (...) Es muss schon noch etwas besonderes haben.“

Die Alp als Ort zur Selbsterfahrung

Mit Alp sind die Assoziationen harte körperliche Arbeit und viel Draussensein verknüpft; das kommt in vielen Alpbildern vor. Dies scheint im kollektiven Bewusstsein verankert zu sein. Viele haben auch den Wunsch, ihren Körper zu spüren und sich viel zu bewegen, gerade, wenn sie im Tal eher einer intellektuellen Beschäftigung in hermetisch steriler Umgebung nachgehen.

„Das, was mich am allermeisten anzieht ist, dass... ich bin in einem Beruf, der sehr kopflastig ist. In der Regel habe ich nicht so Gelegenheit, mich gross zu bewegen, und ich merkte schon einige Male, wenn ich z. B. jemandem zügeln helfen ging oder irgendetwas machen ging, wo ich den Körper brauchen musste, dass ich eine gute Müdigkeit habe und ein erfüllteres Gefühl am Abend, als wenn ich dauernd am Hirnen bin. Und ich wünschte mir mal eine Arbeit, wo ich vor allem körperlich schaffe, wo ich laufe, wo ich heben muss, vielleicht gerade draussen Sachen machen kann. Es geht gar nicht unbedingt darum, ein Produkt herzustellen oder darum zu schauen, dass aus Milch Käse wird oder so, es geht wahrscheinlich effektiv darum, wie das für mich ist, mit meinem Körper etwas zu machen.“

Hier kommt das städtische Konstrukt der Alp sehr ehrlich zum Ausdruck. Obwohl der Abschnitt mit „was mich anzieht“ beginnt, wird dann vor allem von dem gesprochen, was in der Stadt als abstossend empfunden wird. Und das nun mit dem z’Alpgehen Angestrebte, nämlich dass die Person mit sich nach getaner, sichtbarer körperlicher Arbeit zufrieden ist, wurde in der Stadt bei kürzeren Gelegenheiten erlebt. Auf der Alp werden dann fast nur solche Arbeiten zu verrichten sein. Das Glücksgefühl wird ins Unermessliche wachsen... Jedenfalls möchte jetzt mal erlebt werden, wie sich das anfühlt, wenn längere Zeit körperlich hart gearbeitet wird. Die Sinnzuschreibung erfolgt voll und ganz aus der persönlichen Situation in der Stadt. Die vermeintlich offiziellen Bedeutungen der Alparbeit, das dadurch zum Beispiel Produkte hergestellt werden, sind nicht von Interesse.

Etliche stellen sich die Fragen, wie verkrafte ich das, wo sind meine Grenzen. Sich dem zu stellen ist eine Herausforderung.

„Und es gab doch immer wieder Leute, die fanden, das ist nicht nur etwas, das kann streng und intensiv werden. Und ich fragte mich, schaffe ich das.“

Die Alp als ein spiritueller Ort

Einige InterviewpartnerInnen beschreiben die Alp als einen heiligen Ort.

„Dass die mit x welchen Tieren irgendwie dort hinauf gehen und die Sommermonate dort oben bleiben und Käse machen. So etwas Unantastbares. Sicher auch eine Art Bewunderung, dass die dort oben mit ihren Tieren dort sind. Und dort oben nur mit ihren Leuten, zu zweit, dritt oder einfach nur wenige Leute dort bleiben diesen Sommer. Und etwas Wertvolles, etwas Wichtiges. So etwas wie bei einem Brauch. Und dass sie jeden Sommer gehen und ihren Käse machen.“

Zur Alp zu gehen hat etwas Rituelles. Jeden Sommer geht jemand hoch, das ist unveränderlich. Die Menschen, die diese wichtige Aufgabe ausführen, sind nur eine kleine, ausgewählte Gruppe. Sie stellen die Verbindung zwischen Kultur und Natur, zwischen der Welt und Gott her, pflegen diesen temporären Kulturraum und stellen erst noch kostbare Lebensmittel her für diejenigen, die unten geblieben sind.

Eine weitere Interviewperson beschreibt ihr Alpbild wie folgt:

„Die Alp ist für mich ein sehr friedlicher Ort in der Höhe oben, in der Natur, gute Luft, bei schönem Wetter Ausblick, (...). Es ist ein Ort von Ruhe, aber wenn man dann so in ein Tal hinunter sieht, man sieht Autos herumfahren, oder vielleicht hat es sogar einen See, wo man ein Schiff sieht, also gleichwohl in die Bewegung hinein sieht. Aber es ist schon eine rauhe Umgebung, es muss nur ein paar Tage regnen und dann kühlt es schnell ab. Die Witterung ändert sehr schnell. Sonst die Alp... vielleicht das Idealbild... ist fast so wie ein... Paradies. Gut, ich stelle mir vielleicht etwas falsches vor.“

Bei ihr kommt zum Ausdruck, dass wer auf der Alp ist, über der Zivilisation steht. Die Autos sind unten im Tal und die schlechte Luft auch. Unten findet das turbulente Leben statt. Oben ist es ruhig. Dort ist mensch erhaben von zweiflerischen Gedanken und dem negativen Einflüssen des Alltags und steht darüber; beobachtet und durchschaut der Welten Lauf. Oben kann Energie und Kreativität getankt und über sich und die Zeit nachgedacht werden. Schliesslich kann die ÄlplerIn die Eingebung erhalten, wie es mit ihr/ihm unten weitergehen soll.

„Ja, ich bin da momentan selber unschlüssig, was ich will. Für das ist diese Alpzeit auch eine wichtige Zeit. Ich bin in einer Phase, wo ich entscheiden muss, was ich machen will, später.“

Die Alp soll also ein unbekümmerter, inspirierender Ort sein.

Die Alp als temporären Ausstieg

Schliesslich wird erwähnt, dass die Alp ein Fortgehen aus der Stadt ermöglicht. Jetzt möchten die Interviewpersonen in eine andere Welt eintauchen. In der Stadt wurde vieles als Einschränkung empfunden. In den Bergen hat es die ganzen Kunstbauten, Verpflichtungen und Konventionen nicht, da ist Freiheit und mensch kann aufleben.

„Ja ich war jetzt lange in der Stadt, und irgendwie ist die Stadt schon sehr betoniert, es hat viele Steine, Häuser und so. Und jetzt möchte ich wieder mal das Lebendige erfahren und jetzt gerade in den Bergen. Da hast du Weiden, Wälder, Bäche; da hast du Tiere, die umher sind, da hörst du auf den Weiden die Kuhglocken und so,... es ist einfach ganz eine andere Welt.“
 


Von StädterInnen, die z’Alp gehen
Beschreibung der Lebenswelten von „städtischen“ ÄlplerInnen mit Anregungen aus der Theorie des Konstruktivismus

Diplomarbeit der Philosophisch-naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern vorgelegt von Andreas Schweizer 2001