Alpenmythos und Medizin

Angst und Ehrfurcht dominierten einst das Alpenbild des Menschen. Dann mutierte das Gebirge zum Symbol für Naturkraft und Gesundheit. Dadurch wurden die Alpen zur Therapielandschaft. Ein faszinierendes Kapitel Schweizer Kulturgeschichte!


                        
                            
                        
                            
                                
                            
                        
    


                        
                    

                    
                

Als Alpenmilch und Höhenluft noch Heilmittel waren

Plakativer liesse sich die medizinische Bedeutung der Alpen wohl kaum darstellen, als dies Johanna Spyri, selbst Arzttochter, im Welterfolg „Heidi” getan hat: Wenn der ungehobelte Geissenpeter das künstliche Hilfsmittel eines kränkelnden Stadtmädchens trotzig von der Felswand stösst und zerschellen lässt, beschwört er ungewollt die heilsame Wirkung der Natur – und Klara lernt auf der Alm wieder gehen... Die Alpen – eine einzige, grosse Kraftlandschaft? Eine aktuelle Ausstellung versucht die Antwort zu geben.

Europa-Hit „Schweizertee”

Lange bevor sie die Wissenschaft zu solchen erklärte, waren Heilpflanzen aufgrund von Erfahrung genutzt worden. Manch bekannte Medizinalpflanze – wie Alpenschafgarbe, Gelber Enzian oder Meisterwurz – findet sich nur im Gebirge. Bereits die frühen Universalgelehrten erkannten, dass Bergkräuter kleiner sind und intensiver duften. Der „Schweizertee” aus Alpenpflanzen eroberte ganz Europa, zumal, nachdem Albrecht von Haller die Rezeptur noch optimiert hatte.
Und obschon man im 19. und 20. Jahrhundert vermehrt auf schnellwirkende chemische Heilmittel setzte, sollten die Heilkräuter aus der Schweiz ein Revival erleben. „Kräuterpfarrer” Johann Künzle verhalf der traditionellen Pflanzenheilkunde zu neuem Auftrieb. Vom bündnerischen Zizers aus exportierte er seine Kräutermischungen in alle Welt, und seine Broschüre „Chrut und Uchrut” wurde ab 1911 mit über zwei Millionen verkauften Exemplaren zur erfolgreichsten Schweizer Publikation aller Zeiten.

Ziegenmolke und Kuhdung

Ab Mitte 18. Jahrhundert kamen Kuraufenthalte in den Bergen in Mode, zuerst im Alpenvorland. Die Ziegenmolke machte im Appenzellerland – ausgehend vom Flecken Gais – Furore im Kampf gegen die Volksseuche „Schwindsucht” (Lungentuberkulose). Mancherorts, so im Heinrichsbad bei Herisau, kombinierte man die Molke mit dem Kuhdung: Im Krankenzimmer über dem Kuhstall nutzte man die therapeutische Wirkung der Ammoniakdämpfe...
Immer mehr entwickelte sich im Gras- und Viehzuchtland Schweiz eine eigentliche Milchkultur, wobei der weisse Saft ab der Bergweide als besonders gesundheitsfördernd galt. So konnte dann im 19. Jahrhundert die Schweizer Alpenmilch – in Form von Kondensmilch, Milchpulver und Milchschokolade – ihren gewaltigen Siegeszug um die Welt antreten.

Ein Glas frischer Alpenmilch als Ausdruck jungfräulicher Reinheit. Werbeplakat 1900

Munggenfett und Bezoare

Rücksichtslose Bejagung von Alpentieren durch Jäger und Wilderer geschah nicht bloss des Fleisches und der Trophäen wegen; verschiedene Körperteile und Organe wurden zu Arzneien verwendet, so etwa Murmeltier-Fett gegen rheumatische Erkrankungen, Bartgeier-Innereien gegen „Fallende Sucht” (Epilepsie) oder Bärengalle gegen Gallensteine. Auch dem Steinwild wurde abergläubische Volksmedizin zum Verhängnis.
Die geballte Kraft des mächtigen Hornträgers, seine – trotz scheinbar plumpem Körper – elegante Kletterkunst und die extreme Härte gegenüber den mörderischen Strapazen des Bergwinters haben den Steinbock in den Augen der Menschen zum Symbol für robuste Gesundheit werden lassen. Praktisch alles an dieser „kletternden Apotheke” sollte für oder gegen etwas gut sein, heilend oder magisch wirken, vom Horn übers Herz bis zu Mark und Blut, ja sogar Herzkreuzchen (Verknöcherungen im Austrittsbereich der Herzschlagadern) und Bezoarkugeln (eingeschleckte und im Magen strumpfkugelförmig zusammengeklebte Haare).

Stilleben aus der Bergapotheke: Bärenfett-Topf und Gefäss aus Steinbockhorn; vorne Bezoare, Haarkugeln aus dem Magen von Gemsen und Steinwild. (Bild: PHMB)

Drachenstein und Mondmilch

Auch mineralische Produkte dienten als Arznei, so zum Beispiel Bergkristall, als Lutscher im Mund zum Durststillen (weil Kristall als „verdichtetes” Wasser galt) oder pulverisiert eingenommen zur Bekämpfung der Ruhr. Besonders gefragt unter den „Mineralien” waren Steine von Bergdrachen, wie der berühmt gewordene Luzerner Drachenstein, eine mit seltsamen Zeichen verzierte Steinkugel, die anno 1420 ein von der Rigi zum Pilatus fliegender Drache bei Rothenburg habe fallen lassen, umschlossen von einem Blutkuchen...
Seit Jahrhunderten hatten Älpler von einer Höhle am Pilatus die Mondmilch (eigentlich Montmilch = Bergmilch) ins Tal gebracht, feine Calciumcarbonat-Ablagerungen des Höhlenbachs. Im Luzernischen galt diese „Milch”, mit Wasser angerührt, noch bis 1900 als Heilmittel gegen Sodbrennen und Muttermilchmangel. Auch das Gletschersalz oder Sal Alpinum galt als Allerweltsmittel gegen vielerlei Gebrechen. Bei diesem weissen Mineral handelt es sich um Magnesiumsulfat, das – gleich wie das Natriumsulfat (Glaubersalz) – abführende Wirkung hat.

Der grosse Bäderboom

Die quellenreiche Schweiz erwies sich schon früh prädestiniert für Bade- und Trinkkuren, die mindestens vier Wochen dauerten. Gebadet wurde, bekleidet mit langem Hemd, an die zehn Stunden am Tag, bis dass die „Urschlechte”, ein Badeausschlag, auftrat. Bei Trinkkuren wurden bis zehn Liter Quellwasser pro Tag einverleibt... Diese Frühform des Tourismus erfuhr durch den Ausbau der Verkehrswege im 19. Jahrhundert zusätzlichen Aufschwung.
Die ältesten und zugleich höchstgelegenen Heilquellen der Schweiz sind die eisenhaltigen von St. Moritz, die heissesten dagegen die Kalziumsulfit-Thermen von Leukerbad. Als verborgenste Quelle kann sich jene von Pfäfers in der Taminaschlucht rühmen, wo Paracelsus als erster Badearzt gewirkt hat und die seit 1840 Bad Ragaz versorgt. Die „radioaktivste” war die St. Placi-Quelle bei Disentis, die erst dann aus der Mode kam, als Radium und Radon in der Schulmedizin ausgedient hatten.

In der Frauenabteilung des Leuker Spitalbads um 1910. Im Armenbad hatten nur Kranke Zutritt, die ein „Armutszeugnis“ vorweisen konnten. (Bild: MHIZ)

Luft- und Höhenkuren

Obschon bereits Jean-Jacques Rousseau die Alpenluft empfohlen hatte, erreichten Luft- und Höhenkuren sowie die von der Trockenfleisch-Gewinnung inspirierte Sonnenlicht- oder Heliotherapie (bei Knochentuberkulose) ihre Blütezeit erst nach den Molke- und Badekuren. Ozonreiche Luft – man höre und staune – galt dabei lange als Wettbewerbsvorteil.
Wie Pilze schossen die Sanatorien aus dem Alpenboden. Lungenkurorte zur Bekämpfung der Tuberkulose wie Davos (als Pionier), Arosa, Leysin oder Montana florierten so lange, bis die medikamentelle Behandlung der Tuberkulose möglich wurde. Beim Aufkommen der Antibiotika leerten sich die Kurhäuser und Sanatorien zusehends und wurden zu Sporthotels umfunktioniert.

Realität und Mythos

Lag das Heil in der Kraftlandschaft Gebirge? Fest steht: Die Alpen haben die Medizin nachhaltig inspiriert. So entstand das vermutlich erste Röntgenbild der Schweiz 1896 in Davos, realisiert von Alpinist und Hobbyfotograf Alexander Rzewuski, der als Asthmapatient hier weilte. Und neue Errungenschaften aus den Schweizer Bergen hatten oft Signalwirkung für ganz Europa.
Sicher sind unzählige Menschen in der Therapielandschaft Alpen gesund geworden, wobei – neben medizinischer Hilfe – wohl auch nicht-materielle Kräfte mitspielten. So wie beim Waisenmädchen „Heidi”, das im fernen Frankfurt aus Heimweh zur Schlafwandlerin wurde, jedoch, daheim beim Öhi auf der Alp, sofort wieder aufblühte. – Bleibt die Gretchenfrage: Sind die Alpen, seitdem sie zur Sportarena mutierten, entmystifiziert, oder sind die Menschen in ihrem Naturverständnis nüchterner geworden – vielleicht ein bisschen gar nüchtern?


Die Sonderausstellung

Kräuter, Kröpfe, Höhenkuren
Die Alpen in der Medizin – die Medizin in den Alpen

ist zu sehen bis Ende März 2004 im Medizinhistorischen Museum der Universität Zürich, Rämistrasse 69 (geöffnet Di-Fr 13-18, Sa/So 11-17 Uhr), und dann vom 15. April bis 15. August 2004 im Bündner Natur-Museum in Chur, Masanserstrasse 31 (Info-Telefon 081 257 28 41).

Unter dem gleichen Titel ist von der Realisatorin der Ausstellung, der Germanistin und Biologin Margrit Wyder, ein Buch erschienen im Verlag NZZ, Zürich, CHF 48.–


Heini Hofmann ist Zootierarzt und Wissenschaftspublizist. Sein bekanntestes Buch: Die Tiere auf dem Schweizer Bauernhof. 1992, 6. Auflage. AT Verlag Aarau.