Die lebendige Bibliothek der Schweizer Käsebakterien

Die Stammsammlung an Käsebakterien bei Agroscope, ein wahrer Schatz der Schweizer Käsekultur, umfasst über 10’000 Bakterienstämme und dient als fundamentales Biodiversitätsreservoir für die Käseproduktion.


                        
                            
                        
                            
                                
                            
                        
    


                        
                    

                    
                
Käsebakterien in der Petrischale. (Carole Parodi, Agroscope/Liebefeld Kulturen)

 
Die Geheimnisse des Schweizer Käses werden in den kühlen Laboren von Agroscope in Liebefeld in Bern nicht nur bewahrt, sondern auch erforscht und weiterentwickelt: Die beeindruckende Sammlung von über 10’000 Bakterienstämmen bildet das Herzstück der Schweizer Käsekultur. Lebensmitteltechnologe Christoph Kohn und Mikrobiologe Noam Shani gehören zum Team, das die bemerkenswerte Sammlung betreut und behütet und sind Experten in der Pflege und Erforschung dieser Mikroorganismen.
 

Bewahrung des mikrobiellen Erbes

Ab Anfang des 20. Jahrhunderts gingen die Mikrobiologen in die verschiedenen Käsereien der ganzen Schweiz und nahmen den Käse und verschiedene Produkte wie Molke oder Molkekulturen und isolierten daraus Bakterien. Zu dieser Zeit hatte jede Käserei ihre eigene Kultur. Und jede dieser Kulturen war das Ergebnis einer jahrzehntelangen oder jahrhundertelangen Evolution – einer Selektion. «Viele von diesen Käsereien sind verschwunden und damit wären auch diese selektionierten Stämme verschwunden, wenn sie nicht gesammelt worden wären», erklärt Christoph Kohn.

«Die meisten Stämme in der Sammlung stammen aus Emmentaler beziehungsweise Emmentaler-Fettsirtenkulturen, weil Emmentaler in der ‹Goldgräberzeit› der Stammsammlung wegen ihrem wirtschaftlichen Gewicht die meist studierte Sorte war», ergänzt Noam Shani. Daneben wurden auch aus Gruyère viele Stämme isoliert und diese Fokussierung auf Emmentaler und Gruyère spiegelt die historische Bedeutung dieser Käsesorten für die Schweiz wider.

Und die Lagerfähigkeit dieser Bakterienstämme ist bemerkenswert: Dank der Techniken des Einfrierens und der Gefriertrocknung können sie über Jahrzehnte hinweg bewahrt werden, mit regelmässigen Reaktivierungszyklen, die ihre Lebenskraft sichern. «Eine gefriergetrocknete Ampulle aus den 1930er-Jahren konnte problemlos ‹reaktiviert› werden», sagt Noam Shani und ergänzt: «Konserven von Stämmen, die in gefrorener Form aufbewahrt werden, werden nach 15 Jahren neu hergestellt – gefriergetrocknet können sie länger aufbewahrt werden.»
 

Die Rolle der Stammsammlung in der Schweizer Käsevielfalt

Die Bedeutung dieser Sammlung für die Milch- und Käseindustrie kann kaum überschätzt werden. Sie stellt ein «kulturelles Erbe» der Schweizer Kulinarik dar und beherbergt Mikroorganismen aus verschiedenen Regionen und Käsesorten der Schweiz. So ist die Sammlung nicht nur ein Biodiversitätsreservoir, sondern auch ein lebendiges Kulturerbe.

Sie ermöglicht es den Käsereien, mit einer traditionellen Mikroflora zu arbeiten, die aus den vielfältigen Regionen der Schweiz stammt. So wurden diese Mikroorganismen über Jahrhunderte von den Schweizer Käsern selektiert und «domestiziert», ähnlich der Züchtung von Nutztieren, um die perfekten Stämme für ihre spezifischen Käsesorten zu entwickeln. Die Sammlung spielt also eine grosse Rolle in der Erhaltung der Einzigartigkeit und Diversität der Schweizer Käsekultur. Denn bei der Entwicklung von neuen Kulturen kann auf diesen wertvollen Schatz an Mikroorganismen zurückgegriffen werden. «Aufgrund von Hygiene und Standardisierung ist die mikrobielle Vielfalt von einst ansonsten praktisch verschwunden – die Stammsammlung als ‹Gedächtnis› der Schweizer Käsekultur ermöglicht es, diese Vielfalt und Einzigartigkeit zu bewahren», erklärt Christoph Kohn.
 

Innovation und Tradition zu Synergie

Das wissenschaftliche Knowhow und die einzigartige Sammlung von Käsekulturen sowie die enge Zusammenarbeit mit der Praxis bieten der Schweizer Käseindustrie einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil: «Das Dreigestirn Forschung-Beratung-Kulturenproduktion und die enge Verzahnung mit der Praxis ist ein wichtiger Erfolgsfaktor», erklärt Christoph Kohn. Probleme und Herausforderungen in der Käseproduktion werden seit über 120 Jahren gemeinsam mit der Praxis angegangen und gelöst.

So ist auch die wirtschaftliche Bedeutung der Stammsammlung enorm – auch wenn sich ihr Wert nicht einfach in Schweizer Franken ausdrücken lässt. Sie trägt wesentlich zur Wertschöpfung von Schweizer Milch bei und stellt sicher, dass Schweizer Käse seine einzigartigen Merkmale auf dem internationalen Markt bewahrt. «Der Branche ist der Erhalt sehr wichtig – sie beteiligt sich finanziell an der Pflege der Stammsammlung und lässt sich die Kulturenproduktion jährlich mehrere Millionen Franken in Form von Kulturenbestellungen kosten», erklärt Christoph Kohn weiter.

In den letzten Jahren hat sich die Produktion neuer Kulturen insbesondere in Richtung von Spezialkulturen wie Schutzkulturen und Herkunftsnachweiskulturen entwickelt. Diese Entwicklungen zielen darauf ab, den Käse auf natürliche Weise vor unerwünschten Mikroorganismen zu schützen und gleichzeitig die Authentizität und typischen Merkmale der AOP-Sorten zu gewährleisten. Die Forschung und Entwicklung neuer Kulturen stellen sicher, weiterhin traditionelle Käsesorten zu produzieren und trotzdem moderne Anforderungen an Sicherheit und Qualität zu gewährleisten. So konvergieren die Erwartungen der Käsereien und der Endverbraucher in dem Wunsch nach stabilen, hochstehenden und authentischen Produkten, die die Swissness in den Vordergrund stellen. «Die Käsereien wünschen durch den Einsatz entsprechender Kulturen eine stabile, hochstehende Qualität der Produkte», sagt Christoph Kohn abschliessend.
 

Die Forschungsanstalt Agroscope und ihre Vorgänger-Institutionen produzieren im Liebefeld seit Anfang des 20. Jahrhunderts die berühmten Liebefeld Kulturen® und stellten sie den Schweizer Käsereien zur Verfügung. (Bachmann, Agroscope/Liebefeld Kulturen)
 

 
Wie die Löcher in den Käse kommen
Nebst der Bewahrung und Weiterentwicklung der Käsebakteriensammlung forschten die Agroscope-Experten in Liebefeld in den letzten Jahrzehnten aber auch intensiv an der Lochbildung im Käse.
Lange wurde davon ausgegangen, dass die Löcher im Schweizer Käse von Kohlendioxid herrühren, das von manchen Fermentationsbakterien produziert wird, welche die Milch in Käse umwandeln, und dass dies einfach automatisch geschieht. Vor etwa 30 Jahren stellten die Schweizer Käser aber fest, dass die Löcher immer kleiner und seltener wurden, und Wissenschaftler wollten in der Folge herausfinden, warum. Denn obwohl diese Löcher den Geschmack nicht wirklich beeinflussen, beeinflussen sie sicherlich, wie Schweizer Käse aussieht.
Diese Forschungen brachten zutage, dass die Löcher im Käse tatsächlich von Kohlendioxid herrührten – aber nicht nur: Die Lochentstehung hängt auch von mikroskopisch kleinen Verunreinigungen beispielsweise durch Heustaub ab, die das Gas um sich sammeln und Blasen bilden. Stallbauliche Massnahmen, technische Fortschritte wie moderne, geschlossene Melksysteme und höhere Hygienestandards führten also zu einer zunehmenden Sauberkeit der Milch, die aber die so typische Lochbildung im Käse beeinträchtigte.
Guter Käse entsteht aus einwandfreiem Wasser, guter Milch und qualitativ hochstehenden Bakterienkulturen. Aber gerade für die typischen Löcher braucht es Staubpartikel in der Milch, damit sich diese überhaupt bilden. Und so werden bei der Käseproduktion heute teilweise – wenn die Milch zu wenige Lochansatz-Partikel enthält – «homöopathisch» kleine Mengen an Heublumenpulver zugegeben.
«Es entsteht glücklicherweise gerade wieder ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass zu viel Sterilität und Sauberkeit eher schadet als nützt», sagt Christoph Kohn, Lebensmitteltechnologe bei Agroscope und ergänzt: «Gerade Schweizer Rohmilchkäse kann hier als Lebens-Mittel und nicht nur reines Nahrungs-Mittel einen wichtigen Beitrag leisten.» Und so wächst unter den Konsumentinnen und Konsumenten die Wertschätzung für traditionelle Produktionsmethoden, die ein Gleichgewicht zwischen Hygiene und dem Erhalt der mikrobiellen Vielfalt voraussetzen.