Die Saga der Freiheitskühe von Saint-Sévère

Zwei Dutzend Rinder büxen aus. Der Anfang einer hübschen Geschichte aus Kanada zum noch frischen Jahr.


                        
                            
                        
                            
                                
                            
                        
    


                        
                    

                    
                

Ende Mai 2022, eine Herde von Jungkühen weidet friedlich auf einer sattgrünen Wiese beim 325-Seelen-Dorf Saint-Sévère im Departement Mauricie in der kanadischen Provinz Quebec, als ein grosses Gewitter aufzieht. Starke Winde und fallende Äste beschädigen den Zaun, und 24 Rinder schlagen sich in die Büsche oder genauer in den umliegenden dichten Wald. 

Was nun beginnt, gleicht einer Schildbürgergeschichte. Die Kühe geniessen offensichtlich ihre neu gewonnene Freiheit und lernen schnell, sie auch zu bewahren. Die Tage verbringen sie im Schutz der Bäume. In der Nacht plündern sie trampelnd die Felder und Höfe der Gegend, überqueren vor verdutzten Autofahrern Strassen und springen «wie Rehe» über Zäune. Alle Versuche, die Ausbrecherinnen aufzuspüren und wieder einzufangen, scheitern. 

Nach wochenlangem Versteckspiel beschliesst die «directrice générale» von Saint-Sévère, Marie-Andrée Cadorette, sich an die Behörden zu wenden. Das Landwirtschaftsministerium besitzt keine Betäubungspfeile und verweist ans Jagddepartement. Dort heisst es aber, dass sie nur für Wildtiere zuständig seien. Beim Tierschutz erntet Cadorette nur Gelächter, und die Sicherheitspolizei meint schlicht, sie soll doch die flüchtigen Rinder einfach abknallen. 

Cadorette bringt es nicht übers Herz, diese radikale Lösung in Betracht zu ziehen, zumal mehrere Kühe in der Wildnis gekalbert haben. Von allen im Stich gelassen, hat sie die geniale Idee, sich ans Western-Festival von St-Tite zu wenden. So kommt es, dass Ende November acht Cowboys losreiten, um die flüchtigen Rinder einzufangen. Nach zwölf Stunden scheint es geschafft, die Herde ist zusammengetrieben, doch im letzten Moment entkommen die verwilderten Kühe in ein noch ungeerntetes Maisfeld. 

 

Längst haben die Medien von der Sache Wind bekommen. Die Freiheitskühe erlangen schnell Tik-Tok-Ruhm und werden sogar zum Politikum. Links werden sie ironisch als Kämpferinnen gegen die kapitalistische Unterdrückung und die Umweltzerstörung gefeiert, rechts werden Parallelen zum Antivax-Trucker-Convoy gezogen. Marie-Andrée Cadorette entpuppt sich in der populären TV-Talkshow «Tout le monde en parle» als talentierte Unterhalterin. Sie gesteht, dass sie sogar versucht habe, die Kühe mit Blockflötenspiel aus dem Wald zu locken. Cadorette und die freiheitsliebenden Kühe erobern die Herzen der Zuschauer im Sturm. 

8. Januar 2023, die Behörden melden stolz, dass nun alle flüchtigen Kühe und auch die Kälber eingefangen worden seien. Es sei ihnen gelungen, die Tiere mit Futter in ein Gehege zu locken. Die Herde sei bei bester Gesundheit, den Rindern sei ein dickes Winterfell gewachsen. Pierre Lapointe, der Besitzer, ist zuversichtlich, dass sich die Ausreisserinnen schon bald wieder ans «zivilisierte» Stallleben gewöhnen werden. Dass seine Kühe mittlerweile zu Freiheitssymbolen geworden sind, ist ihm sicherlich Wurst, und das nicht nur im übertragenen Sinne …
 


Der Autor: Félix Stüssi ist Jazzmusiker in Montréal, Québec, Kanada. Er war vor Jahren auf einer Ziegenalp im Kanton Glarus und ist der Alpwirtschaft verbunden geblieben.
www.felixstussi.com

Der Beitrag ist erschienen in den «Glarner Nachrichten» in der Ausgabe vom Montag, 16. Januar 2022 www.suedostschweiz.ch/glarus