Neue Kriterien für Abkalbungen

Für Mutterkuhalpen in Graubünden und Glarus gelten ab diesem Sommer neue Weisungen, die vor allem das Kalbern betreffen.


                        
                            
                        
                            
                                
                            
                        
    


                        
                    

                    
                

Für alle Mutterkuhalpen in Graubünden und im Kanton Glarus gelten ab diesem Sommer neue Weisungen. Kühe dürfen nur noch beaufsichtigt auf separaten Weiden kalben. Die Vorgabe wirkt sich auch auf andere Kantone aus. Denn der Bund legt damit erstmals die Kriterien für den Herdenschutz beim Rindvieh fest.

Text Ursina Straub, Bild Jo Schönfelder

Wer Mutterkühe hält oder hütet oder für eine Alp verantwortlich ist, kennt die Problematik: Beim Kalben kann es zu Komplikationen kommen, die Nachgeburt kann Grossraubtiere anlocken oder ein Freizeitsportler nähert sich einer Kuh, die frisch gekalbt hat. Alle drei Situationen entwickeln sich womöglich ungut für Kuh, Kalb und Mensch.
Kommt hinzu, dass im vergangenen Sommer in Graubünden ein neugeborenes Kalb auf der Weide von einem Wolf gerissen wurde. Neun weitere Kälber wurden von Wölfen stark angefressen. Eines dieser neun Kälbchen starb, weil es krank war, bei den übrigen war die Todesursache nicht mehr feststellbar. Das hält der aktuelle «Jahresbericht Wolf» des Amtes für Jagd und Fischerei Graubünden fest.
Nun geben die Kantone Graubünden und Glarus neue Bedingungen vor, unter denen Kühe abkalben dürfen – damit es eben möglichst zu keinen Angriffen von Grossraubtieren kommt. Aber auch, um Konflikte zwischen Mensch und Tier zu verhindern und um die Voraussetzungen zu schaffen, dass gebärenden Kühen im Notfall rasch geholfen werden kann. Diese «Wegleitung für Abkalbungen auf Sömmerungsbetrieben» gilt ab diesem Sommer und ist für den Bund die neue Richtschnur für den Herdenschutz beim Rindvieh.

Checkliste mit 18 Punkten

Konkret legen die Alpverantwortlichen und das Alppersonal bereits vor der Sömmerung fest, ob Geburten auf dem Betrieb verantwortbar und erwünscht sind. Mit einer Checkliste, die 18 Punkte umfasst, klären die Parteien, ob die Alp für Abkalbungen eingerichtet ist, wer welche Verantwortung trägt und ob das Alpteam mit der Weisung und den Abläufen vertraut ist.
Kalben dürfen Kühe nur noch auf Abkalbeweiden, welche maximal fünf Hektaren gross und mit zwei elektrifizierten Litzen eingezäunt sind. Darin bleiben Kuh und Kalb bis 14 Tage nach der Geburt. Vorschrift ist zudem, dass die Weide für das Alppersonal gut einsehbar ist und die Tiere zweimal täglich kontrolliert werden. Und schliesslich braucht es in der Nähe der Abkalbeweide einen festen Einfang.
Eine Grundlage für die Weisung sind gemäss Giochen Bearth, Kantonstierarzt von Graubünden und Glarus, die Empfehlungen für Mutterkuhhalter und Alpgenossenschaften. Diese hat die Arbeitsgruppe «Unfälle mit Mutterkühen» erarbeitet. Sie wurden vor 14 Jahren in der Zeitschrift «Bündner Bauer» veröffentlicht und sind auch auf zalp.ch aufgeschaltet.
Die neue Wegleitung ist breit abgestützt. So haben etwa «Mutterkuh Schweiz» und das Landwirtschaftliche Bildungs- und Beratungszentrum Plantahof mitgearbeitet, aber auch das Bundesamt für Umwelt und der Glarner Bauernverband.

Buchstäblich ein gefundenes Fressen

Ausdrücklich für die Weisung spricht sich das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen aus. Kaspar Jörger, Leiter Tierschutz, sagt: «Aus Sicht des Tierschutzes ist sie sehr zu begrüssen. Die Geburt ist für Mutter und Kalb eine sensible Phase, in der es jederzeit zu Zwischenfällen kommen kann.» Eingreifen können Hirtin oder Halter aber nur, wenn «die Geburt unter Beobachtung geschieht und die Tiere nicht sich selbst überlassen sind», wie Jörger unterstreicht. Das entspreche einer guten landwirtschaftlichen Praxis und sei für pflichtbewusste Tierhalter selbstverständlich. Tierarzt Jörger führt aus: «Frisch geborene und lebensschwache Kälber, aber auch Totgeburten und herumliegende Nachgeburten, die nicht korrekt entsorgt werden, locken Grossraubtiere förmlich an und sind buchstäblich ein gefundenes Fressen.» Werden die Massnahmen korrekt umgesetzt, sollten sie gemäss Jörger ausreichen, um Übergriffe von Grossraubtieren zu verhindern.

Bafu wendet Richtlinie schweizweit an

Was Risse betrifft, wirkt sich die neue Direktive auch auf andere Kantone aus. Laut Reinhard Schnidrig, Leiter der Sektion Wildtiere und Artenförderung beim Bundesamt für Umwelt (Bafu), orientiert sich der Bund nämlich an der Bündner-Glarner Wegleitung, wenn es darum geht zu bestimmen, ob ein Riss aus einer geschützten oder einer ungeschützten Rindviehherde geschah. «Die Wegleitung wird ab sofort für diese Beurteilung die Richtschnur sein», sagt Schnidrig. «Wir werden die Kriterien in der ganzen Schweiz anwenden.»
Das bedeutet, dass nun auch der Herdenschutz bei Rindern geregelt ist. Vor Grossraubtieren zu schützen sind somit Kälber bei der Geburt und in den ersten 14 Tagen. Für Alpen heisst das laut Schnidrig: «Dass Muttertiere bis 14 Tage nach der Geburt in kleinen, übersichtlichen Abkalbeweiden überwacht werden, die nahe bei der Hirtenunterkunft liegen.» Nachgeburten, Totgeburten und tote Kälber müssen umgehend entsorgt werden.
Dieselben Herdenschutzregeln gelten für Muttertiere auf Heimbetrieben, wobei die Koppeln mit regulären Herdenschutzzäunen umzäunt sein müssen.

Gut und hilfreich

Der Verein Mutterkuh Schweiz begrüsst die Richtlinien. «Wir beurteilen die Wegleitung als sehr gut und hilfreich», sagt Ursula Freund, Leiterin Kommunikation. Ein Abkalbeverbot sei hingegen kontraproduktiv. Deshalb wehrt sich der Verein entschieden dagegen.
Als Plus für Weidgeburten zählt Freund die gesundheitlichen Vorteile auf: «Das Kalb wird in eine keimarme Umgebung geboren. Entsprechend ist der Krankheitsdruck gering. Bei Abkalbungen auf der Weide ist die Kälbersterblichkeit am tiefsten.» Zudem würden die übers Jahr verteilten Geburten ein stetes Vermarktungsangebot gewährleisten.

Entflechten als Herausforderung

Allerdings müssten – insbesondere für Geburten auf Sömmerungsweiden – auch Anforderungen erfüllt sein, betont Freund. So bräuchten die Muttertiere etwa die richtige Konstitution und müssten umgänglich sein. Ausserdem sei es wichtig, dass der Abkalbezeitpunkt bekannt ist und die hochträchtige Kuh rechtzeitig auf die Abkalbeweide gebracht wird. «Wenn die Geburten von Personen überwacht werden, ist auch der Schutz der Wanderer am besten gewährleistet», sagt Freund.
Dieser Meinung ist auch Heinz Feldmann von der Beratungsstelle für Unfallverhütung in der Landwirtschaft (BUL). Diese war ebenfalls stark eingebunden bei der Erarbeitung der Richtlinien. Feldmann findet, die Wegleitung sei gut auf den BUL-Ratgeber «Rindvieh im Weide- und Wandergebiet» abgestimmt und eigne sich als Grundlage für andere Kantone.
Es sei aber unumgänglich, so Feldmann, dass dort entflechtet werde, wo ein Sömmerungsgebiet sowohl von der Landwirtschaft wie von Dritten genutzt werde. «Das wird eine der grossen Herausforderungen der Zukunft sein.»

Unruhe und Angst bei der Hirtschaft

Christa Buchli gehört zu jenen Älplerinnen, welche die Richtlinien umsetzen. Die Präsidentin des Bündner Älplerinnen- und Älplervereins hütet Kälber, Galtkühe und Mutterkühe auf der Alp Piggamad zuhinterst im bündnerischen Safiental. Buchli sagt: «Wir begrüssen die Checkliste. Sie regelt die Verantwortlichkeit von Tierbesitzerinnen und Tierbesitzern sowie vom Alppersonal klar.» Buchli wertet auch positiv, dass die Abkalbungen in kontrolliertem Rahmen stattfinden. Sie gibt aber zu bedenken, dass die Richtlinien einen Mehraufwand brächten und die Hirtschaft eine gewisse Erfahrung mitbringen müsse, wenn Kühe abkalben. «Nicht jede Alp ist dafür geeignet.»
Fraglich ist für sie, ob der vorgeschriebene Mehrlitzenzaun in der Praxis taugt. «Neugeborene Kälber können unter dem Zaun hindurchrutschen – und nicht mehr zum Muttertier zurück.» Ein Fragezeichen setzt sie auch dahinter, ob ein Zweilitzenzaun Grossraubtiere abhält. Eine teilweise Entspannung sieht sie hingegen beim Freizeitsport. «Jeden Sommer erlebe ich, wie unvernünftige Leute Zäune übersteigen. Zumindest Kinder können nicht so leicht auf die Weide gelangen, wenn mit zwei Litzen gezäunt wird.» Wie gut es gelingt, die Weisungen einzuhalten, wird sich diesen Sommer zeigen. Buchli betont: «Für einige Älplerinnen und Älpler wird es eine Herausforderung. Vergessen wir nicht, dass viele Alpen bereits viel investiert und angepasst haben.»
Generell macht die Vereinspräsidentin eine grosse Unruhe und Angst unter dem Alppersonal aus – hauptsächlich wegen der Wolfspräsenz. «Viele Aussagen von Fachleuten und Umweltverbänden werden vom Wolf durch sein Verhalten widerlegt», unterstreicht sie. «Wir Älplerinnen und Älpler machen die Erfahrung, dass niemand so richtig weiss, was auf uns zukommt.»

Weil sich erst zeigen wird, wie sich die Weisung im Alpalltag bewährt, nimmt der Schweizerische Alpwirtschaftliche Verband (SAV) noch nicht detailliert Stellung. «Grundsätzlich ist es aus Sicht des SAV wichtig, dass Abkalbungen auf Weiden möglich sind», erklärt Geschäftsführerin Andrea Koch. «Sie sind für das Tierwohl und die Tiergesundheit sinnvoll und in der Mutterkuhhaltung auch nicht ganz zu verhindern.»
Da es vor allem in Gebieten mit hoher Wolfsdichte und Tourismus Konflikte geben könne, sei es sinnvoll, dort Kompromisse zu finden. Der SAV wertet Ende Sommer die Erfahrungen aus und setzt sich dann damit auseinander, ob sich die Weisung für alle Schweizer Alpen eignet oder ob aus Sicht der Alpwirtschaft allenfalls Anpassungen nötig sind.

 

Die PDF-Dokumente zum Download:

Wegleitung für Abkalbungen auf Sömmerungsbetrieben

Checkliste Abkalbungen auf Sömmerungsbetrieben

Dossier: Alpung von Mutterkühen

Ratgeber: Mutterkühe, Wanderwege