Von Alpviren und sonstigen Tieren

Hat er mich also doch infiziert, der Alpvirus! In einem Handbuch habe ich mal gelesen, dass mann/frau das Alpleben lieben oder hassen wird. Das trifft bei mir so nicht zu, denn ich habe während fünf Monaten beide Gefühlswelten durchlebt.


                        
                            
                        
                            
                                
                            
                        
    


                        
                    

                    
                

Wieso hatte ich mich anfangs Jahr entschlossen meinen gut bezahlten Job als PC-Supporterin an den Nagel zu hängen und dafür einen Sommer lang alleine auf einer Alp Zäune aufzustellen und 170 Kühe, Kälber, Rinder und Stiere zu hüten? Wie konnte ich glauben, dass ich ohne Probleme all meine Freunde zurücklassen werde? War es Naivität, Abenteuerlust, Übermut oder einfach Freude an Natur und Tieren? Wahrscheinlich von allem ein bisschen und von letzteren ganz viel.

Die Realisierung und Vorbereitungen liefen nicht in der normalen Reihenfolge ab. Infos fand ich im Internet und einem nützlichen Handbuch, dann startete ich zwei Stellengesuche und stellte mich bei einem Interessenten an zwei Samstagen tatkräftig vor. Ich machte dem Bauernehepaar von Anfang an klar, dass ich als Städterin mit Null landwirtschaftlicher Erfahrung, geschweige denn Alp-Knowhow, diese Arbeit antreten würde. Die Zuversicht des Bauern steckte mich an und ich vertraute voll auf seine Erfahrungen mit Neulingen während den vergangenen siebzehn Alpsaisons. Einen Monat nachdem (!) der Vertrag unterschrieben war, konnte ich es endlich einrichten, die Alp zu besichtigen. Ich kann mich gut erinnern, wie ich die Hütte betrat und mir für einen Moment die Luft wegblieb. Die Hütte, die ich vorfand, entsprach nicht den Vorstellungen eines Alpneulings, wie ich es war. Ich «kannte» die Chalets nur aus Heimatfilmen, die ich früher mit Grossmuttchen anschauen durfte; gemütlich eingerichtet, rot-weiss karierte Vorhänge an den kleinen Fensterchen, saubere heimelige Holzhütte, heimatlich dekoriert, in der Ecke eine prasselnde Feuerstelle... Pustekuchen! Bis auf die offene Feuerstelle, die noch die Kohlereste vom letzten Feuer im 2001 beinhaltete, entsprach nichts meinen Vorstellungen. Ich war so enttäuscht und auch etwas schockiert, dass ich wohl einen Rückzieher gemacht hätte, wäre dieser verflixte Vertrag nicht schon unterschrieben gewesen.

Am 15. Mai hatte ich meine Alpauffahrt und bezog die einsame Hütte. An mein Gefühl des ersten Abends kann ich mich sehr gut erinnern. Es war bereits dunkel. Ich stand vor der Hütte und schaute ins Tal, wo man die wenigen Lichter eines kleinen Dorfes sah, ausserdem hörte man nur weit entfernt ein Käuzchen schreien, sonst nichts. Dieses NICHTS machte mir erst in diesem Moment richtig klar, dass ich alleine war. Dieses Gefühl der Einsamkeit überwältigte mich derart, dass ein Zweifel aufkam, sich für das richtige entschieden zu haben.

Die meiste Zeit lebte und arbeitete ich alleine auf der Alp. Der Bauer kam nur, um mir beim Umtreiben und Sortieren der Tiere zu helfen, und um Lebensmittel zu liefern, welche Bestandteil meines Lohnes waren. Die ersten Wochen waren hart, und ich erreichte meine psychischen wie physischen Grenzen ein paar Mal. Ich war zwar überzeugt gewesen, diesen Job nüchtern und informiert angegangen zu sein, aber ich hatte die körperliche Arbeit unterschätzt. Mit dem schweren Locheisen, den Vorschlaghammer und Stacheldraht konnte ich mich nie anfreunden. Auch die zum Teil modrigen Zaunpfosten erprobten meine Geduld, Kraft und Ausdauer. Viel zu oft musste ich meine Erfahrungen auf schmerzliche oder ermüdende Weise machen. Z.B. verlief ich mich bereits am zweiten Tag auf der 160 ha grossen Alp. Den zweiten Dämpfer erfuhr ich zwei Tage später, als ich mich, beim Versuch eine Schutzhülle für eine kleine Axt zu basteln, tief in den linken Daumen schnitt. Aber neben meinem vielen Ungeschicklichkeiten, wie Sturz von der Leiter oder die diversen unfreiwilligen Tests mit dem Stopdraht in Verbindung mit optimaler Erdung (!) lernte ich viel und machte auch schöne Erfahrungen, vor allem im direkten Kontakt mit den Tieren. Bereits in der dritten Alpwoche durfte ich die erste Geburt eines gesunden Kalbes miterleben, zehn weitere sollten folgen.

Bis zur sechsten Wochen nach meiner Ankunft sah mein Tagesablauf wie folgt aus: Ich stand speziell an den heissen Junitagen früh am Morgen auf und genoss den Sonnenaufgang und das Erwachen meiner Umgebung. Ich putzte den Stall, fütterte Pony, das Huhn und dann mich. Danach kontrollierte ich das Vieh und verteilte je nach Bedarf Salz. Während der Kontrolle achtete ich darauf, ob die Tiere tränende Augen hatten (Gemsblindheit), hinkten (mögliche Anzeichen für Grippi) oder Schürfungen aufwiesen und behandelte diese Tiere mit einer homöopathischen Lösung aus einem Pumpenspray. Bei aussergewöhnlichen Vorkommnissen zog ich telefonischen Rat vom Bauer zu. Den trächtigen Kühen schenkte ich besondere Aufmerksamkeit und kontrollierte sie am Morgen und am Abend. Anschliessend musste ich weiter an den Zäunen arbeiten, da es zehn Weiden auszuhagen gab, welche bei 1100 Meter über Meer begannen und auf der Bergkante, beim Moléson auf 1930 m ü.M. endeten.

Am späten Nachmittag kam ich meistens ziemlich müde zur Hütte zurück und konnte bei schönem Wetter noch vom herrlich warmen Wasser in den Schläuchen auf dem Hüttenblechdach profitieren. Ansonsten hiess es kalt duschen oder Wasser aufkochen. Am Abend kochte ich mir auf der offenen Feuerstelle meistens Pasta, Rösti, Eintopf oder Omelette und genoss meinen Feierabend bei schönem Wetter draussen auf der Holzbank, las ein Buch, schrieb meine Eindrücke nieder oder spielte auf meiner Mundharmonika. Manchmal ging ich zur Buvette, einer kleinen Wandererraststätte, wo man zusammen mit den Nachbarsälplern ein Bierchen trank und ich mir als Neuling manchmal Unheil verheissende Geschichten anhören musste. War wohl gut, dass ich mit meinen Französischkenntnissen nicht alles verstand, denn ausser der Ankündigung von harten Zeiten mit Schnee und abstürzenden Tieren bekam ich keinen Rat zu hören.

Dann kam für mich schwerste Zeit. Während fast drei Wochen lernte ich meine psychischen Grenzen kennen. Es verging kein Tag, an dem nicht etwas aussergewöhnliches passierte. Das ging so weit, dass ich am Morgen mit flauem Gefühl im Bauch aufstand, weil ich Angst hatte, dass wieder etwas passieren würde. Rückblickend kommt es mir vor, als hätte ich während dieser Zeit alle möglichen Zwischenfälle erlebt. Einmal war die Kuh Olivia beim Versuch ihrem frisch geborenen und abgerutschten Kalb zu folgen, abgestürzt und hatte sich eine halbe Klaue fast abgerissen.
Das intensivste Erlebnis in diesen drei Wochen war meine 6-stündig geleistete Geburtshilfe bei einem Rind und dessen Rettung aus dem Bachbeet. Am Vormittag fand ich das Rind in der Nähe eines Baches liegend. Die Wehen hatten eingesetzt und die Klauen wie die Zunge des Kalbes schauten schon heraus. Dieser mir unbekannte aber eigentlich schöne Anblick schoss mein Adrenalinspiegel in die Höhe, da ich nicht wusste, wie eine Kälbergeburt normalerweise abläuft. (So wie ich mich fühlte, muss sich wohl ein werdender Vater fühlen?)

Leider war das Kalb zu gross für dieses Rind und blieb in der Hälfte stecken. Am Nachmittag sah es so aus, dass das Kalb tot und nicht mit eigener Kraft zur Welt gebracht werden konnte. Dazu kam, dass das mittlerweile erschöpfte Rind bei jedem Versuch aufzustehen vom Gewicht des Kalbes weiter ins Bachbeet gezogen wurde. Es drohte abzustürzen! Mit Hilfe eines Helikopters wurde das Rind aus dem Bachbeet geborgen, zur Hütte geflogen und etwas später entfernte der Tierarzt das Kalb. Nach elf Stunden Dauerstress kam ich todmüde nach Hause. Das verletzte Rind, welches nicht mehr aufstehen konnte, pflegte ich während einer Woche vor der Hütte. Seine ersten Gehversuche waren ein dringend notwendiges Erfolgserlebnis für mich, denn neben eingerissenen Zäunen, vermischten Herden, vermissten Jährlingen und sintflutartigen Regenschauern hatte ich während dieser psychisch harten Zeit keine Gelegenheit gehabt durch erfolgreiche, schöne Tätigkeiten meine Batterie zu laden. Es kam soweit, dass ich mir überlegte, wie ich aus diesem Alptraum erwachen könnte. Obwohl mich meine Familie und Freunde mit Briefen, SMS und am Telefon unterstützten, entschloss ich mich nach mehrtägigem Kampf mit meinem inneren Schweinehund den Bauer zu bitten, einen Ersatz für mich zu suchen. Er war wie vor den Kopf gestossen und an diesem Abend führten wir ein längst fälliges Gespräch, in dem ich endlich ein Feedback über meine Leistungen erhielt.

Zwei Tage später kam die Wende und mein Ego meldete sich zurück. Ich war auf dem Heimweg, nachdem ich bei strömenden Regen und 50 Meter Sicht ein totes Tier auf der Bergkante gefunden hatte. Ich konnte es glücklicherweise als eines meines Nachbarn identifizieren. Plötzlich wurde mir klar , dass die Zeit der negativen Erlebnisse vorbei war, ich mein «Fett abbekommen» hatte. Es konnte nur noch aufwärts gehen. Warum ich das wusste, kann ich nicht sagen, aber da war ein Gefühl in mir, als hätte jemand den Schalter umgekippt. Man glaubt es kaum, aber vom nächsten Morgen an, ging ich mit positiver Einstellung und freudiger Erwartung den neuen Tag an und hatte Spass. Die restlichen 2 1/2 Monaten wurden nur noch von wenigen negativen Erlebnissen überschattet, die positiven überragten bei weitem und der Job wurde zu einem schönen, spannenden Abenteuer.

Die restliche Alpzeit verbrachte ich mit meinen täglichen Kontrollrunden, der Überprüfung und Unterhalts der Zäune, dem Umhagen und der Herstellung von Pfosten. In der Freizeit widmete ich mich meinen Hobbys. Ich las viel, wanderte, besuchte andere Hirten, ging ins Dorf oder in die nahe Stadt und erlaubte mir auch ab und zu ins Freibad zu gehen. Ausserdem besuchten mich regelmässig Verwandte und Freunde, meistens an Sonntagen, nachdem ich meine Kontrollrunden bereits erledigt hatte.

Interessant war, wie sich meine Wahrnehmung und das Gefühl für Grösse und Weite veränderten. Als ich im Herbst die Zäune abräumen, oder zumindest den Draht abhängen musste, lächelte ich oft, wenn ich an den Frühling zurückdachte, wie unbeholfen und manchmal orientierungslos ich im Gelände herumgekraxelt war. Dabei hatte ich oft das Gefühl, dass ich in unmöglichen und unzugänglichen Terrain arbeiten musste, und fürchtete mich vor Abstürzen. Doch im Herbst schien fast alles unscheinbar, überschaubar und ungefährlich, und ich fragte mich, wohin die 160 ha grosse Alp verschwunden war.

Ende September verliess mich mein Wetterglück und ich erlebte, das Alpabenteuer in weisser Pracht. Der Bauer und seine Kindern fuhren extra die 200 km zu mir auf die Alp und halfen beim Umtreiben der Tiere in schneefreie Weiden. Die letzten Wochen vergingen plötzlich sehr schnell und die Tage waren ausgefüllt mit Aufräumarbeiten und Sortieren der Tiere. Meine Nachbarn hatten sich bereits verabschiedet und ihre Alpen verlassen, die Buvette war geschlossen, das Bergrestaurant auf dem Moléson war auch unbewohnt und die früher unbeliebten Wanderer blieben aus. Ich war alleine mit dem Vieh und den wieder vermehrt sichtbaren Wildtieren wie Füchse, Rehe und diversen Raubvögel. Die Mäuse bereiteten sich auf den Winter vor. Die Murmeltiere hatten sich schon verabschiedet und es war still geworden. Könnt ihr euch vorstellen wirklich nichts zu hören. Nur das Rauschen des eigenen Blutes? Wenn man sich daran gewöhnt hat, ein wunderschönes Gefühl, ein Sein nur mit der Natur und sonst nichts. Ich habe das Nichts lieben gelernt und vermisse es, seit ich zurückgekehrt bin.

In diesen letzten Wochen übermannte mich immer öfters Wehmut während meinen Rundgängen. Bald würde ich nach Hause zurückkehren, in mein so lange vermisstes sauberes, warmes, trockenes Heim, zu Familie und Freunden, zu Luxus, in die Zivilisation. Ich würde «meine» Tiere vermissen, die körperliche Arbeit in der Natur, bei jedem Wetter, die Selbständigkeit, die Unabhängigkeit, ja, ich würde die Alp vermissen... der Virus hatte mich gepackt.

Seit ich heimgekehrt bin stecke ich voller Tatendrang. Mit Freude und Erwartung gehe ich jeden Tag meines neuen alten Leben an. Meine Freunde sagen, ich sprühe nur so von Energie und die Auszeit habe mir sichtbar gut getan. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge schaue ich auf den Sommer zurück. Ein Sommer, in dem ich meine Grenzen kennen gelernt habe, in dem ich stärker geworden bin und in dem ich viel gewonnen, obwohl auch finanziell verloren habe. Diese Erfahrungen möchte ich nicht missen, obwohl ich noch nicht weiss, in welchen Situationen sie mir in Zukunft helfen werden.

Nicht nur der Bauer fragte mich, ob ich nächstes Jahr wieder auf der Alp arbeiten werde, aber diese Frage kann ich im Moment noch nicht beantworten. Ich weiss nur, dass mich der Virus gepackt hat, denn jedes Mal, wenn ich hier unten Kühe sehe, oder alleine über die Felder jogge und der Natur etwas näher bin, spüre ich einen Stich in meiner Brust und in Gedanken bin ich plötzlich wieder in den Bergen bei «meinen» Tieren, bei Wendy, Olivia, Bueb, Sandy, Santos und wie sie alle heissen... das Alpfieber schüttelt mich!


Michelle P. wuchs in einer Grossstadt auf, trotzdem verbrachte sie während ihrer Kindheit öfters Sommerferien als Hilfsbäuerin. Obwohl sie das Landleben, die Tiere und die Arbeit auf dem Bauernhof liebte, arbeitete sie später als Speditionskauffrau und während den letzten Jahren als PC-Supporterin in Grossfirmen. Nach 30 Lebensjahren kehrte sie zurück in die Natur, bezog eine Wohnung in einem 3000 Seelen-Dorf und gönnte sich dieses Jahr eine Auszeit auf einer Fribourger Alp. Neben ihrer Arbeit als Hirtin konnte sie sich ihrer Leidenschaft widmen, dem Schreiben von Kurzgeschichten. Ende Oktober kehrte Michelle in den Alltag zurück und trat eine neue Stelle als Supporterin an – ohne ihr mittelfristiges Ziel, ein Buch über ihre Alperfahrungen zu schreiben, aus den Augen zu verlieren. Ausserdem begann sie sofort wieder mit Karatetraining, um so schnell wie möglich erneuten Anschluss im Nationalkader zu finden. Sport, Schreiben und mal einen Sommer auf der Alp bieten Michelle den notwendigen Ausgleich um ab und zu dem öden Alltag entfliehen zu können...