Wildnis in der Wolfsdebatte – ein umstrittener Begriff

Wildnis gibt es nicht einfach, sondern Wildnis wird, gerade in ihrem Verhältnis zur menschlich geprägten Kulturlandschaft, unterschiedlich gedacht – und sie wird vor allem auch gemacht. Dies zeigt sich im Umgang mit Wölfen in der Schweiz.


                        
                            
                        
                            
                                
                            
                        
    


                        
                    

                    
                

Vor knapp 30 Jahren kehrten die ersten Wölfe in die Schweiz zurück, nachdem die Tierart in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hierzulande ausgerottet worden war. Die Rückkehr der grauen Vierbeiner hat viele Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt und Konfliktlinien aufgebrochen. Wildnis spielt dabei eine zentrale Rolle, gilt der Wolf doch oft als deren Inbegriff.

Wildnis stellt einen kontroversen Wertbegriff dar

Die Bedeutung von Wildnis changiert in der Wolfsdebatte zwischen Verwilderung, Biodiversität und Rewilding (die Idee, eigenständigere, «natürlichere» Wildnisprozesse zu reaktivieren). Für die eine Seite verunmöglicht die erneute Präsenz von Wölfen die Schafhaltung im Gebirge, wodurch die alpine Kulturlandschaft verbusche und vergande. Dies wird sowohl als Verlust an biologischer Vielfalt sowie als «Verlotterung» einer vertrauten, schönen und nicht zuletzt auch touristisch genutzten Landschaft beschrieben. Auf der anderen Seite wird die Wiederausbreitung der Grossraubtiere in der Schweiz als ein Vorgang begrüsst, der das Ökosystem «Wald» wieder in die Balance bringe: Indem Wölfe die Anzahl und das Verhalten von Rehen, Hirschen und Gämsen beeinflussten, trügen sie dazu bei, dass junge Bäume verschiedener Arten wieder besser aufwachsen könnten. In einer Art Kettenreaktion hätten Wölfe so einen positiven Effekt auf die natürliche Waldverjüngung, wodurch insbesondere der Schutzwald im Gebirge wieder resilienter werde.

In beiden Perspektiven weist Wildnis verschiedene Dimensionen auf: Wildnis ist zugleich ein ökologischer, ökonomischer, ästhetischer und sozialer Wert und damit eine kulturelle, mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladene Kategorie. Wildnis beschreibt also niemals einfach objektiv eine bestimmte Art von Natur. Sie stellt vielmehr einen umstrittenen Wertbegriff dar, mit dem sehr viele Missverständnisse und Konflikte einhergehen, wenn es um den Umgang mit Wölfen geht.

Die gedachte Grenze zwischen Wildnis und Kulturlandschaft formt den Blick auf den Wolf

Dies wird insbesondere deutlich, wenn man verschiedene Vorstellungen des Verhältnisses von Wildnis zu Kulturlandschaft in den Blick nimmt. Die möglichen Beziehungen dieser beiden Sphären bewegen sich zwischen der Vorstellung einer kompletten Unvereinbarkeit einerseits und der Auffassung einer relativierten, durchlässigen Grenze zwischen Wildnis und Kulturlandschaft andererseits. Konkret auf Wölfe gemünzt, resultiert aus der ersten Auffassung die Position, dass in der Schweizer Kulturlandschaft kein Platz für Wölfe sei. Der zweiten Auffassung folgend sind Wölfe hingegen anpassungsfähige Pioniere einer sich wieder ausbreitenden Wildnis, welche sich flexibel und kleinteilig in menschlich genutzte Räume zu integrieren weiss.

Wildnis gibt es also nicht einfach, sondern Wildnis wird, gerade in ihrem Verhältnis zur menschlich geprägten Kulturlandschaft, unterschiedlich gedacht – und sie wird vor allem auch gemacht.

Wildnis entsteht erst im Verhältnis zum Menschen

Unsere ethnografischen Erkundungen im Wolfsfeld zeigen, wie zahlreiche Akteur:innen im Umgang mit Wölfen ganz konkret an der Grenze von Wildnis und Kulturlandschaft arbeiten und in diesem Sinne Wildnis «machen»: Wildtierkameras registrieren, wann sich Wölfe an bestimmten Orten aufhalten und wie sie diese nutzen. Das durch solche Monitoringtechniken geschaffene Wissen über Wölfe bildet eine zentrale Grundlage für den Umgang mit Wölfen im sogenannten Wolfsmanagement. Die Behörden überwachen also wilde Tiere, um ihnen eine Existenz hierzulande zu ermöglichen. Eine scheinbar paradoxe Situation: Um wilde Natur zu erhalten, muss sie kontrolliert werden.

Wenn Wölfe sich wiederholt menschlichem Siedlungsgebiet nähern, dann sieht das Wolfsmanagement vor, dass sie vergrämt werden oder im Beisein des ganzen Rudels ein Individuum erlegt wird. Mit diesen Mitteln wird explizit versucht, das Verhalten der Tiere zu beeinflussen: Wölfe sollen dazu erzogen werden, eine klare Grenze zwischen ihrem eigenen Lebensraum als Wildtiere und dem Lebensraum der Menschen zu respektieren und einzuhalten.

Eine scheinbar paradoxe Situation: Um wilde Natur zu erhalten, muss sie kontrolliert werden.

Eine sehr bildliche Arbeit an der Grenze von Wildnis und Kulturlandschaft ist das Aufstellen von Zäunen, welche im Weidegebiet Schafe oder andere Nutztiere, also domestizierte Tiere der Kulturlandschaft, vor dem Wildtier Wolf schützen sollen. Zäune können jedoch umknicken oder durch Wind und Steine ausgehebelt werden, ungemähte Grashalme können den Strom ableiten oder Tiere die Zäune überspringen und unter ihnen hindurchkriechen. Elektrozäune zeigen somit, wie labil und permeabel die Grenze zwischen Wildnis und Kulturlandschaft zuweilen ist und wie aufwendig es sich in der Praxis gestaltet, diese aufrechtzuerhalten.

Selbst auf der genetischen Ebene ist nicht von sich aus klar, was «wild» ist. Der Unterschied zwischen den eng verwandten Arten Wolf und Hund etwa präsentiert sich als ein genetisches Kontinuum. Eine klare Definition von Hybriden ist jedoch gesetzlich festgelegt.

Selbst auf der genetischen Ebene ist nicht von sich aus klar, was «wild» ist.

Die Tier- respektive Jagdschutzverordnung regelt genau, welche (Rück-)Kreuzungsgenerationen von domestizierten mit wildlebenden Tieren toleriert werden und welche nicht. Somit wird auch hier von Menschen definiert und praktiziert, wo Wildnis aufhört und anfängt, wenn diesem Gesetz folgend Abschüsse von Wolf-Hund-Mischlingen ausgeführt werden.

Wildnis nicht affirmativ voraussetzen

Entgegen der Annahme, dass Wildnis gerade durch den Nicht-Einfluss des Menschen definiert ist, zeigen diese Beispiele aus dem Wolfsfeld, dass wir als Gesellschaft der Wildnis eine Form geben, dass wir sie aktiv gestalten und an ihr arbeiten. Als zutiefst kulturelle Kategorie kann demnach auch kein allgemeingültiges Verständnis von Wildnis vorausgesetzt werden. Dies tut jedoch die Frage «Wieviel Wildnis braucht der Mensch?». Sie geht von einem bestimmten, positiven Verständnis von Wildnis aus, das nicht von allen Menschen in der Schweiz geteilt wird. Wildnis ist vielmehr ein politisch umstrittener Begriff, den man daher auch kritisch reflektieren und bedacht verwenden muss. Die Frage, was Wildnis überhaupt ist beziehungsweise wer was darunter versteht, sollte daher am Anfang stehen. Denn wenn man Wildnis affirmativ und unhinterfragt voraussetzt, werden manche Akteur:innen von vornherein aus der Diskussion exkludiert.


Elisa Frank hat am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich im Rahmen des SNF-Projektes «Wölfe: Wissen und Praxis» zur Rückkehr der Wölfe in die Schweiz als kulturellem und sozialem Prozess promoviert. Sie interessiert sich für Mensch-Umwelt-Beziehungen, alpine Räume und Erinnerungskulturen.

Nikolaus Heinzer ist Postdoc am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich. Gemeinsam mit Elisa Frank forschte er im Rahmen eines SNF-Projektes zur Rückkehr der Wölfe in die Schweiz. Aktuell untersucht er Nachhaltigkeitspraktiken im Bereich der Gewässerrenaturierung.


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