WWF-Herdenschutzprojekt in Graubünden

Ende 2000 startete der WWF Schweiz in Graubünden ein Herdenschutzprojekt. Das Projekt wurde bewusst mit starkem Praxisbezug und nicht als wissenschaftliche Studie konzipiert. Letztlich werden es Praktiker sein, welche die Herdenschutzmassnahmen anwenden. Darum sollen wirksame, angepasste und praktikable Schutzmethoden von Kleinviehhaltern und Hirten entwickelt und getestet werden. Die Aktivitäten wurden mit dem Kanton Graubünden, dem Bund und der KORA koordiniert.


                        
                            
                        
                            
                                
                            
                        
    


                        
                    

                    
                

Im Rahmen von acht sogenannten Modellprojekten wurden Schutzmethoden in verschiedenen Viehhaltungssystemen getestet. In einem der Projekte wurde beispielsweise die Sozialisierung von zwei jungen Herdenschutzhunden in eine Schafherde mit wechselnder Zusammensetzung beobachtet. Die beiden Welpen wurden sowohl auf eingezäunten Heimweiden als auch auf einer behirteten Alp geprüft. Dabei konnte u.a. der kombinierte Einsatz von Schutz- und Treibhunden ausprobiert werden. In anderen Modellprojekten wurde die Arbeit eines Schutzhundes mit Schafen in Koppelhaltung auf Frühlings- und Herbstweiden sowie auf der Alp getestet. Auch der Einsatz eines Schutzhundes samt seiner Herde auf der Sömmerungsalp mit fremden Schutzhund, fremder Schafherde und fremden Treibhunden wurde ausprobiert. Neben insgesamt sechs Herdenschutzhunden der Rassen Patou des Pyrenées (4 Hunde) und Maremmano Abruzzese (2 Hunde) wurde auch der Einsatz von Eseln in einer Schaf- bzw. Ziegenherde getestet.

Lernen von den südlichen Nachbarn

In den Abruzzen (Italien) hat die Anwendung von Herdenschutzmassnahmen eine ungebrochene Tradition. Ende Juni 2002 reiste eine Gruppe mit Schafhalterinnen und Schafhaltern, je einem Vertreter des Schweiz. Schafzuchtverbandes und des BUWAL, Bündner Wildhütern, sowie KORA Mitarbeitern im Rahmen einer WWF Exkursion in die Abruzzen, um sich vor Ort ein Bild über die Schafhaltung und die Methoden des Herdenschutzes zu machen. Die Mitreisenden stellten fest, dass die Kleintierhaltung ohne Schutzhunde in den Abruzzen mit seinen Wölfen und Bären nicht möglich wäre. Trotzdem werden die Grossraubtiere von Schäfern und Hirten nicht als besonderes Problem wahrgenommen. Gemischte Kleinviehherden (Schafe und Ziegen), Hirten, Schutz- und Treibhunde bilden eine natürlich funktionierende Einheit. Das Modell Abruzzen kann aufgrund unterschiedlicher Mentalität der Menschen, anderer Tierhaltesysteme, anderer Topographie oder wirtschaftlicher Voraussetzungen nicht 1:1 auf Graubünden und die Schweiz übertragen werden. Trotzdem erhielten die Exkursionsteilnehmer aufschlussreiche Erkenntnisse. In den Abruzzen wird ausschliesslich mit Hundegruppen (mind. 4 Hunde) für ca. 250 Schafe gearbeitet. Die Herdenschutzhunde verfügen über eine angeborene Fähigkeit zur Selbstorganisation. Sie verteilen ihre Rollen in der Gruppe selbständig und sind in der Lage, ihre Herde tagsüber auch ohne Hirte im freien Weidegang zu begleiten und zu beschützen. Es werden immer zwei Geschwisterwelpen in eine Herde integriert. Ältere Hunde korrigieren das Verhalten der Junghunde. Übergriffe von Schutzhunden auf Schafe scheinen kein Problem zu sein, weil fehlerhafte Hunde konsequent eliminiert werden. Die Herden sind meist behirtet oder werden zumindest zwei mal täglich kontrolliert und nachts eingepfercht, was eine wichtige Voraussetzung für einen wirksamen Herdenschutz ist. Die Teilnehmer der WWF Exkursion stellten fest, dass in den Abruzzen keine Patentlösung für alle Kleintierbetriebe und Haltungsformen existiert. Der Herdenschutz und der Einsatz von Schutzhunden muss auf die einzelnen Betriebe und Schafhalter angepasst werden. Das bedingt Engagement und Kreativität der Schäfer.

Fazit der Exkursionsteilnehmer für den Herdenschutz in Graubünden und der Schweiz

Grundsätzlich sollte der Schutz der Herden auch in der Schweiz möglich sein. Dazu müssten allerdings die Schutzmethoden weiterentwickelt und auf hiesige Verhältnisse angepasst werden. Die Behirtung der Herden und die Haltung von Schutzhunden müssten von den Schafhaltern und von der Öffentlichkeit als eine Selbstverständlichkeit akzeptiert werden. Eine wichtige Voraussetzung wird die Abgeltung des Zusatzaufwandes für die Betroffenen sein. Eben so wichtig ist eine kompetente Beratung und praktische Unterstützung durch Herdenschutzfachleute. Für Schutzhunde, die während des Winters nicht in Ställen oder in Siedlungsnähe gehalten werden können (Lärm), müssen geeignete Plätze in Schafherden geschaffen werden.

WWF Herdenschutzprojekt 2002: Erste Resultate

Die Erfahrungen aus dem laufenden Projektjahr sind noch nicht endgültig ausgewertet. Es lassen sich aber bereits erste Tendenzen ableiten. Diese gelten nur für die entsprechenden WWF Modellprojekte. Sie sind nicht abschliessend und können nicht verallgemeinert werden:

  • Die Sozialisierung zwischen Schutzhunden und Schafen, Schafen und Schutzhunden, zwischen verschiedenen Schutzhunden untereinander sowie zwischen Treib- und Schutzhunden ergab im ersten Testjahr weniger Schwierigkeiten als erwartet. Entsprechende Probleme könnten aber noch auftauchen. Die Fortsetzung der Modellprojekte wird weitere Resultate bringen.

  • Die Integration von mehreren Welpen in Herden anstelle von Einzelhunden könnte die Sozialisierung erleichtern. Die Haltung von Hundegruppen sollte im Rahmen des Projekts getestet werden.

  • Ein Hund konnte während des Sommers kurzfristig und ohne Schwierigkeiten von einer Schafherde in eine Ziegenherde umplatziert werden. Weitere Erfahrungen zum Einsatz von Hunden in Ziegenherden müssten in einem entsprechenden Modellprojekte gesammelt werden.

  • Die Behirtung ist eine zentrale Voraussetzung für den Einsatz von Herdenschutzhunden im freien Weidegang. In der Schweiz besteht jedoch ein grosses Manko an erfahrenen Hirten. Dem müsste mit Hirtenkursen oder Ausbildungslehrgängen abgeholfen werden. Die Bezahlung eines Hirten ist für die Schafhalter zur Zeit nur für grössere Herden (ab ca. 500 – 600 Tieren) wirtschaftlich tragbar.

  • Der Einsatz von Schutzhunden in Koppeln (Zäune) ist grundsätzlich möglich. Dieses Modell müsste u.A. für die Frühlings- und Herbstweiden weiterverfolgt und entwickelt werden.

  • Zwischen Herdenschutzhunden und Passanten/Touristen/Haushunden besteht ein Konfliktpotential. Sollte sich der Einsatz von Schutzhunden dereinst etablieren, müssten sich Wanderer und Spaziergänger der neuen Situation anpassen. Dazu ist intensive Informationsarbeit und Kooperation mit Partnern aus dem Tourismusbereich notwendig.

  • In Siedlungsnähe kann das nächtliche Bellen von Schutzhunden Lärmbelastungen verursachen. In solchen Situationen müssten die Hunde während der Stallhaltung in geeignete Einstellplätze abgegeben werden können.

  • Freilaufende Herdenschutzhunde können potentiell auch wildernde Hunde sein (Murmeltiere), was zu Konflikten mit den Interessen der Jagd und des Wildes führen kann. Hier müssen Erfahrungen gesammelt werden.

  • Esel sind nicht a priori geeignet als Herdenschutztiere, obwohl im Projekt eine Eselin und ein Fohlen ohne Probleme in eine Ziegenherde integriert wurden und diese vor fremden Hunden beschützten. Vor allem Hengste können sich aggressiv gegenüber Lämmern verhalten. Ausserdem können Esel ihrer Herde nicht überall hinfolgen (Zäune als Hindernisse, sehr steiles, felsiges Gelände). Bei Präsenz von mehreren Raubtieren, kann der Esel selber zur Beute werden.

  • Bislang hatte der Schutz von Ziegen und Kälbern innerhalb des WWF Projekts in Graubünden keine Priorität. Der Einsatz von Schutzhunden in Ziegen- und Kälberherden sollte getestet werden.

Zusammenfassung des aktuellen Erfahrungsstands

Die Behirtung der Herden und der Einsatz von Herdenschutzhunden werden zentral sein für einen wirksamen Herdenschutz in Graubünden. Die Integration und der Einsatz von Schutzhunden in Schafherden mit verschiedenen Haltesystemen war im Rahmen der WWF Modellprojekte einfacher, als angenommen. Schwieriger dürfte die Akzeptanz der Schutzhunde durch Menschen sein (Kleinviehhalter, Touristen, Passanten, Nachbarn/Lärm). Für einen wirksamen Herdenschutz ist der Einsatz von Schutzhundegruppen anzustreben. Esel werden Schaf- oder Ziegenherden nur beschränkt schützen können. Der Schutz des Kleinviehs vor Grossraubtieren und streunenden Hunden wird für die Betroffenen mehr Arbeit und Kosten bei geringerem Ertrag verursachen. Der Konflikt zwischen den Interessen des Naturschutzes (Rückkehr der Grossraubtiere) und der Kleinviehhaltung wird nur zu lösen sein, wenn die Anwendung von Herdenschutzmassnahmen durch die öffentliche Hand mitgetragen wird. Für den Ernstfall braucht es baldmöglichst Eingreiftruppen mit erfahrenen Hirten und tauglichen Herdenschutzhunden.
 


Peter Lüthi, Leiter WWF-Herdenschutzprojekt Graubünden, NaturKultur, Chur