Bücher

Siebenmal Sommer und siebenmal Winter

Die Sontga Margriata ist eine jener Sagengestalten, die als Junge verkleidet auf einer Alp arbeitet und im siebten Sommer vom Handbub als Frau erkannt wird. Der Bub widersteht allen Versprechungen Sontgas zu Glück und Wohlhaben, falls er das Geheimnis wahre. Er jedoch beharrt darauf, es dem Senn zu erzählen. So verlässt Sontga Margriata die Alp und zurück bleiben Geröll und Gletscher.

Ausgehend von der Sage erzählt Paul Bänziger die Geschichte neu. Sieben Sommer steigt Ingy Agni, ein Zwischenwesen, eine Diale, auf die Blumenalp. Den Winter verbingt sie mit mythischen Gestalten in einer Zwischenwelt. Als Zusenn hält Ingy schützend ihr Hand über Vieh, Alp und Käse. Auf die MitälplerInnen wirkt sie verwirrend und erotisch, oft auch philosophisch erhellend. Die wiederkehrenden Sommer nimmt Bänziger zum Anlass, den menschlichen Fortschrittsglauben exemplarisch auf dem kleinen Platz Alp aufzuzeigen. Fegt Unwetter die Alpgebäude weg, tauchen alsbald Baumaschinen auf. Dabei bleibt wenig Raum für feinstoffliche Wesen. Ingy selber versucht sich in der vorgeschriebenen Sage zurecht zu finden, ist sich ungewiss, ob sie Sontga Margriata ist oder ihr nur gleicht. Die Geschichte ist spannend zu lesen, man taucht in den Kosmos der mythischen Welt ein, ohne dass es zu esoterisch wird. Schön, wie ÄlplerInnen und BäuerInnen erheiternd beschrieben sind. gh

Paul Bänziger:
Die Sommer und Winter der Sontga Margriata


IKOS-Verlag, Theilingen 2002, geb., 448 Seiten
CHF 39.–
ISBN 3-906473-17-1

Garantiert nicht romantisiert

Wer einen fliessenden Alproman ohne Ecken und Kanten erwartet, wird mit «Sez Ner» von Arno Camenisch nicht glücklich werden. Wer sich allerdings einlässt auf die eindringliche Wirklichkeit dieser Alpzeit in der Surselva, findet Gedankenfetzen die vorüberschweben, Erinnerungssplitter die weh tun oder Tagesrückblicke die Schmunzeln auslösen. Überrollten mich Düsternis und Lieblosigkeit beim Lesen, liess ich meine Augen schweifen und genoss den zu drei Vierteln unverständlichen romanischen Text auf der linken Seite.

Ein guter Einstieg in den «Sez Ner» ist der Besuch einer Autorenlesung. Camenischs sonore Stimme, in Rumantsch und verschweizertem Deutsch, tröstet über die garantiert nicht romantisierte Atmosphäre auf der Alp hinweg und löst Neugierde aus. Wie geht’s wohl weiter mit der Nachbarhirtin, die ihren Hund zum kastrieren gebracht hatte und dem Zusennen, der dem sennenden Grobian entflieht und mit ihr die Alpliebe geniesst? Gibt’s noch mehr Lebensweisheiten vom alten Linus, wird die Antenne bis zuletzt halten, und wieso flicken sie die Karette nicht? Wehrt sich der geplagte Schweinehirte endlich und behält der Kuhhirte den Weitblick trotz endloser Arbeit? Ich fische links und rechts lesend nach Kuhnamen, versuche mich an rätoromanischer Aussprache und suche Stellen zum einhaken und wohlig fühlen, weil es doch auch so schön sein kann. eh

Arno Camenisch:
Sez Ner

 
Urs Engeler Editor, 2009
CHF 36.–
ISBN 978-3-938767-63-4
www.arnocamenisch.ch
www.engeler.de

Am Schluss sind alle tot

Zwanzig Jahre nach einem schrecklichen Unglück beschliessen die Einwohner eines Dorfs im Wallis, ihr Vieh wieder auf die Alp Sasseneire hinaufzuschicken. Dort bahnt sich bald neues Unheil an: Eine Seuche bricht aus, die Sennen sind zu strikter Quarantäne gezwungen, einer nach dem andern erliegt der Angst oder verfällt dem Wahnsinn. Mit unheimlicher Magie erfasst dieser 1926 erstmals publizierte grosse Bergroman seine Leser.

«Besonders ist auch das poetisch dichte Erzählen: gleich einem rasch geschnittenen Film ziehen die Bilder und Momentaufnahmen vom Untergang eines Bergdorfes vorbei, durch eine geschickte Zeitstruktur, in der die Vergangenheitsform immer wieder vom Präsens unterwandert wird, suggeriert der Text Kamerawechsel, Beschreibungen lesen sich wie Drehbuchanweisungen. Ein Erzählen, das streckenweise schwindlig macht.» (Katrin Schumacher, Deutschlandradio Kultur, 21.10.09)

Charles Ferdinand Ramuz:
Die grosse Angst in den Bergen

 
Kollektion Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag, München 2009
CHF 31.90
ISBN 978-3-312-00445-4
www.hanser-literaturverlage.de

Alpen, sömmern und der ganze Rest

«Wenigstens noch hundert Jahre!» möchte Ute Braun als Hirtin auf der Alp verbringen. Seit über 20 Jahren zieht es sie aus ihrem «normalen» Leben als Heilpraktikerin, den Sommer über in die Schweizer Berge. In ihrem Buch nimmt sie uns mit auf «ihre» Alp und lässt uns teilhaben an dieser bodenständigen Welt voller Farben, Gerüche, Düfte, Licht und Leben, aber auch an der harten und oft mühseligen Arbeit und den Anfällen von Einsamkeit.

Doch für diese Frau ist gegen alle Unbilden ein Kraut gewachsen. Sie meistert jede Aufgabe mit Hingabe und Humor, öffnet ihr Herz für Gott und die Welt und lässt uns teilhaben am Glück des ursprünglichen Lebens. Bildhaft erzählt sie uns über den erlernten Umgang mit dem Vieh, gefolgt vom teils schmerzlichen Abschied im Herbst, der Schönheit eines sternenübersäten Himmels und den alltäglichen Überraschungen eines Alpsommers. Ein aufrichtiger Bericht – ganz nah an den Realitäten des Lebens und dennoch mit viel Platz für Sinnlichkeit und Fantasie. (Ruth Oberhollenzer)

Ute Braun:
Alpsommer

Mein neues Leben als Hirtin
 
Ehrenwirth/Lübbe Verlag, 2008, geb., 255 Seiten
CHF 34.90
ISBN 978-3-431-03742-5
www.luebbe.de
www.utebraun.de

Diesmal erzählt das Vreneli

Das Vreneli ist nicht wie andere Kinder. Schon über seine Eltern kursieren im Tal die seltsamsten Gerüchte, und als die Mutter früh stirbt, heisst es, der Vater habe mit bösen Mächten paktiert. Das Vreneli soll fort von ihm und auf die Schule, doch lernt es lieber das zwielichtige Handwerk des Zauberns und streicht in Gestalt eines roten Füchsleins über die zerklüfteten Berge und Gletscher. Nachdem es die Tochter eines reichen Fabrikanten aus der Gefangenschaft eines Hexers gerettet hat, verfolgt der es mit Wut und Ausdauer. Bald darauf trifft das Vreneli den Waisenknaben Melk, einen jungen Sennen, ein Quatemberkind wie sie — und spürt ein Sehnen, das sie bis dahin nicht gekannt hat. Doch bringt der Fluch des Hexers auch den Melk in Gefahr … gh

Tim Krohn:
Vrenelis Gärtli

 
Eichborn Verlag, Frankfurt 2007
Hardcover
ISBN 978-3-8218-0774-4
CHF 39.90
www.eichborn.de

Granitschädel und Luchstatzen

In den Berner Oberländer Bergtälern werden erbitterte Fehden ausgetragen, die quer durch ganze Dörfer, Sippschaften, Familien gehen. Jäger und Schafhalter gegen Naturschützer und Stadtromantiker stehen als Prototypen für die verfeindeten Lager. Ein Wilderer schickt die vier abgehackten, blutigen Pfoten eines Luchses ans zuständige Bundesamt. Die Boulevardmedien heizen die Stimmung an. Julius Leen, dreadlockstragender Zivi im Luchsprojekt, gerät zwischen sämtliche Fronten. Nicht nur die Stumpen der Granitschädel rauchen. Eine unheilvolle Bierwette führt zu einem Wettjagen.

Granitschädel, Linke und Nette, gewilderte Luchse und Wissenschaftler begegnen sich in der Beiz und am Berg, werden von konträren Ideologien und Lebensformen gelenkt und bilden damit spannenden Stoff zu dieser vielseitigen, erhellenden und anheimelnden Geschichte über die wiederangesiedelten Luchse in der Schweiz. gh

Urs Mannhart:
Luchs

 
Bilger Verlag, Zürich 2005
gebunden
ISBN 978-3-908-01070-8
CHF 37.–
www.bilgerverlag.ch

Wenn die Toten lenken

Nach dem Lesen schnaufe ich auf. Toll, habe ich jetzt gerade ein Buch gelesen oder einen Film geschaut? Die Kino-im-Kopf-Bilder hallen noch durch meine Hirngänge, dort wo der Lese-Projektor hockt. Augstburger bestsellert mit einem episch angelegten und hippen «Heimatroman» über die Insassen eines Walliser Bergdorfes. Alles ist in der Geschichte verpackt: Liebe und Tod, Eifersucht und Rache, Familie und Fehde, alte Mythen und späte Rache, runterpolternde Steinmassen, Rettung in letzter Minute, Versöhnung – dies hübsch gewürzt mit Splittern unverständlichen Wallisertiitsch. Dazu lernen wir Historisches über die Suonen, den Merkhammer, die Arbeitsbedingungen im Stauwerkstollen, den ewigwährenden Fortschrittsglauben und die Ausweglosigkeit als Mensch vorwärts zu kommen. Fein, dass uns hier die Natur und die Toten etwas helfen. Wie auch Kauers «Spätholz» ein Buch, dass man lesen darf, soll und muss. gh

Urs Augstburger:
Graatzug

 
bilgerverlag Zürich 2007
schön gebunden
ISBN 978-3-908010-84-5
CHF 39.–
www.bilgerverlag.ch

Unentbehrlich wie Salz

Wenn Jörg Wäspi Feder, Schreibmaschine, Laptop oder Kugelschreiber zur Hand nimmt und Erinnerungen durch seine Finger fliessen lässt, entsteht Poesie, die in Worte fasst, was wir immer schon mal ausdrücken können wollten. Wovon wir in Tagträumen schwadronieren, was uns das Herz zum überlaufen bringt oder wie es sich frierend zurückzieht, er fängt es gewandt ein. Vom Salz des Lebens schreibt er, sei’s zuviel, zuwenig oder genau richtig; und wie Salz sprenkelt er seine Gedanken über die Seiten des kleinen Bändchens, auf dass wir unsern Morgenkaffee, eine kurze Pause, die Momente vor dem Einschlafen oder den winterlichen Alpsehnsuchtsanfall mit seinen Gedichten über Mensch, Tier, Berg, Stadt, Leben und Liebe würzen. eh

Jörg Wäspi:
flucht und heimat

 
zalpverlag Mollis 2007
57 Gedichte, einige Bilder, ein Lesebändchen
Fr. 29.–
www.zalpverlag.ch

Ein zartes, feines Buch

Der jüdische Journalist Sam Apple begegnet in New York einem österreichischen Wanderschäfer, der jiddische Lieder singt, zum einen vor Publikum, zum anderen seinen sechshundert Schafen. Er beschliesst Hans Breuer auf der Winterweide und der Alp zu begleiten, um mehr über ihn zu erfahren. Sam Apple möchte zudem seinen jüdischen Wurzeln nachgehen und herausfinden, wie die österreichische Gesellschaft ihre Judenfeindlichkeit während des zweiten Weltkriegs verarbeitet hat.

Auf der Alp findet Sam Apple keine Idylle. Er hat die falschen Schuhe und ungenügende Muskeln mit. Zudem hatte er sich nicht vorgestellt, dass ein Berg steil sein kann und das Wetter oben unfreundlicher als im Central Park. Die Schafe machen nicht, was sie machen sollen und Sam hat Angst, von den Hirtenhunden die Tollwut zu kriegen. Hans Breuer singt zwar seinen Schafen jiddische Lieder vor, streitet sich aber heftig mit seiner Frau und bleibt Sam weiterhin ein Rätsel mit lückenhaftem Lösungswort. Die angetroffenen Österreicher zeigen sich ihm weitgehend judenfeindlich und wollen lieber nicht auf ihre Vergangenheit angesprochen werden.

Sam Apples Bericht ist sehr persönlich gehalten, er ist sich selber immer wieder unangenehm im Wege und versteht die Welt, die er beschreiben will, nur zaghaft. Das ist schön zu lesen. gh

Sam Apple:
Schlepping durch die Alpen

Ein etwas anderes Reisebuch
 
Atrium Verlag, Zürich 2007
gebunden
ISBN 978-3-85535-00-1
CHF 34.90
www.atrium-verlag.com

Ein Heimatroman!

Liegts ächt an der Gattung, dass der neueste Roman des Präsidenten des Schweizerischen Schriftstellerverbandes, Tim Krohn, bisher eher wenig Resonanz fand? An der Geschichte jedenfalls kanns nicht liegen, die hat das Zeug für einen veritablen Bestseller, ist eingängig und hintergründig, spannend und witzig – schlicht hinreissend. In Quatemberkinder lässt uns der im Glarnerland aufgewachsene Autor in eine Welt voller Zauber und Mythen eintauchen, greift auf Sagen und Geschichten zurück und schreibt sie neu – in einer mit den gspässigsten Mundartausdrücken durchsetzten Sprache, dass es eine meineidige Freud ist. Der Autor hat Dutzende bekannte und weniger bekannte Alpensagen ausgegraben und ihnen für diesen Roman das Fleisch an die Knochen zurückgezaubert. Der Rezensent ist ansonsten nicht der Meinung, dass unser heutiges Alppersonal auf den qualitätsgesicherten Alpen zwischen dem Melken, vor dem Auspladen oder auf der Weid unbedingt vom Alpen und nichts anderem sollte lesen, möchte aber bezüglich der Quatemberkinder eine unbedingte Empfehlung aussprechen. (Christian Brassel)

Tim Krohn:
Quatemberkinder

und wie das Vreneli die Gletscher brünnen macht
 
Eichborn Verlag, Frankfurt 2002
Paperback
ISBN 978-3-8218-0703-4
CHF 29.50
www.eichborn.de

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