Die aktuell omnipräsenten Berichte über das Alpleben in Film, Büchern und Zeitschriften haben oft – gewollt oder ungewollt – einen mehr oder weniger romantisierenden Touch. Von dieser Form Romantik ist in den drei vom Innsbrucker Historiker Georg Jäger zwischen 2019 und 2021 veröffentlichen Bänden «Vergessene Zeugen des Alpenraums» wenig zu spüren. Jäger, der selbst aus einer Tiroler Kleinbauernfamilie stammt, schildert darin ausführlich die teilweise von extremer Armut geprägten Lebenswelten der ländlichen Unterschichten. Der Fokus seiner Arbeit liegt hauptsächlich auf den Verhältnissen in den südwestlich von Innsbruck gelegenen Stubaier Alpen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1950er Jahre. Nicht wenige der zahlreichen Abbildungen beinhalten indes auch Motive aus der Schweizer Alp- und Berglandwirtschaft. Zwar stellt Jäger zu Beginn des ersten Bandes ausführlich die Sozialstruktur der abgelegenen ländlichen Gesellschaft dar, die durch den Gegensatz von reichen, grundbesitzenden Bauern und meist bitterarmen, sogenannten «Kleinhäuslern» gekennzeichnet war. Trotzdem handelt es sich bei den drei Bänden nicht um eine sozial- oder kulturwissenschaftliche Analyse, sondern eher um eine Sammlung von Sekundärquellen (Reiseliteratur, volkskundliche Literatur, Zeitungsberichte, biografische Erzählungen u. a. m.).
Band 1 widmet sich der Arbeit der «Männer und Buben», konkret den Maulwurf- und Schermausfängern (die teilweise gut verdienten, da aus den Maulwurffellen Pelzmäntel für die «bürgerliche Damenwelt» hergestellt wurden) und den Ziegenhirten. Band 2 berichtet über von «Frauen und Mädchen» ausgeübte Tätigkeiten als Kraxenträgerinnen, Wäscherinnen, Wildheuerinnen, Wurzengraberinnen, «Jätergitschen» u. a. Der dritte Band schliesslich handelt von den Sennerinnen – anders als in der Schweiz war die Milchverarbeitung in den Tiroler Alpen weitgehend Frauensache – sowie der Hochgebirgsjagd und der Wilderei. Etwas irritierend ist die von Jäger ausser beim Thema Wilderei konsequent durchgezogene Zuordnung der dargestellten Tätigkeiten nach Geschlechtern, obwohl viele der Tätigkeiten nicht geschlechtsabhängig waren – ging es nicht gerade ums Stricken oder Wäschewaschen. Fliessend konnten die Geschlechtergrenzen offenbar auch bezüglich der äusseren Erscheinung sein, was sich nicht nur in einzelnen Abbildungen, sondern etwa auch im Bericht eines deutschen Studenten spiegelt, der im Hochgebirge plötzlich vor starken Wildheuerinnen «mit männlichen Zügen» stand, die gleichzeitig Männerhosen und Mieder tragend unablässig an kurzen Tabakspfeifen zogen. Daneben vermag Jäger aber eindrücklich zu zeigen, wie stark das ökonomische Überleben dieser Unterschichten von der Arbeit der Frauen abhing und welch immenser, heute nicht mehr annähernd vorstellbarer Arbeitsbelastung diese ausgesetzt waren. Die drei Publikationen eignen sich nicht unbedingt zum Durchlesen, dazu ist die Präsentation der Quellen oft zu repetitiv und die Literaturangaben direkt im Text hindern den Lesefluss. Es lässt sich aber bestens ausgiebig darin schmökern und mit Bild und Text in vergangene Zeiten abtauchen. (an)