«Alpkäse können sie im Unterland nicht machen»

In einem Beruf, in dem es die meisten nur wenige Jahre aushalten, ist ein Vierteljahrhundert eine Ewigkeit. Genau so lange ist Martin Capaul Senn auf der Alp Selva in Vals.


                        
                            
                        
                            
                                
                            
                        
    


                        
                    

                    
                

Martin Capaul tritt in den neuen Tag hinaus, aber es braucht schon sehr viel Zuversicht, um zu glauben, dass es heute mal noch tagen wird: Es schüttet wie aus Kübeln, das Thermometer turnt um die Schneefallgrenze herum, man sieht kaum die Hand vor den Augen und vor allem ist es gerade mal vier Uhr. Nicht am Nachmittag. Nachts. Doch dann geschieht etwas Seltsames: Capaul lacht. Nicht jenes bittere Lachen, das man angesichts der Situation erwarten könnte. Das Lachen des Senns tönt befreiend und versöhnlich. „Das Wetter ist wie es ist”, meint er. „Wenn man sich darüber aufregen würde, hätte man viel zu tun. Ändern wollen soll man nur das, was man ändern kann.” Dieser Satz sagt viel über den Menschen Martin Capaul aus, der seit 25 Jahren auf der Kuhalp Selva oberhalb Vals sennt. Irgendwie ist dort noch immer alles, wie es schon immer war: Das selbstverständliche Aufstehen mitten in der Nacht, das Käsen, das Buttern, das Zäunen, das Pflegen der Tiere, der Wetterwechesel ... Aber ein Vierteljahrhundert ist eine lange Zeit, darum ist auch vieles anders geworden.

Familienbande 

Capaul geht zurück in die Hütte, wo bereits seine Frau Hedwig (39), die Kinder Florian (18) und Michael (19), Franziska (14) und Kathrin (13) ebenfalls mit einer grossen Selbstverständlichkeit den Tag in Angriff nehmen: Florian verschwindet zusammen mit Michael in der Nacht, um die Kühe von der Nachtweide zu holen. Der Rest der Familie bereitet das Melken, das Käsen und das Buttern vor. So - oder so ähnlich - haben es die Capauls seit jeher gehalten. Jedes Familienmitglied war automatisch Teil des Alpbetriebs und hat schon im Kindergartenalter mitgeholfen. Und obwohl Florian und Michael in der Sportler-, respektive Elektrikerlehre sind, kommen sie an den Wochenenden zum Helfen auf die Selva. Wenn man mit den Kindern einzeln redet, kann sich keines vorstellen, einmal nicht mehr auf die Selva zu gehen. „Hier ist meine Familie, hier bin ich daheim”, sagt Florian etwa. „Hier bin ich gross geworden, hier habe ich gelernt, was arbeiten heisst – einen schöneren Ort kann ich mir gar nicht vorstellen.” Und wenn Franziska laut darüber nachdenkt, dass sie später die Alp übernehmen möchte, ist das nicht einfach so dahingeredet.

Falls sich der Traum der Sek-Schülerin bewahrheitet, würde sie eine uralte Tradition fortsetzen. „Schon meine Grosseltern und meine Mutter gingen z’Alp. Irgendwie liegt uns das wohl im Blut”, erzählt Martin und läuft hinüber in den Stall, wo Florian und Michael mit den 70 Kühen eintreffen. Dann geht alles sehr schnell: Die Familienmitglieder arbeiten Hand-in-Hand und ohne viele Worte zu machen: Einstallen, anbinden, Euter putzen, anmelken, melken… jeder Handgriff sitzt. Ab und zu reicht es gar für einen Spruch, für eine Neckerei und entsprechendes Gelächter. Nach einer Stunde ist die Herde schon wieder draussen, die Milch via Absauganlage im Kupferchessi und bis zum Käsen bleibt Zeit für das Zmorgen in der vergleichsweise komfortablen Wohnküche mit Elektrokochherd, fliessendem Wasser und heimeliger Essecke.

Dunkles Loch

„Als ich vor 25 Jahren nach der Käserlehre auf die Selva kam, sah das hier noch anders aus – ganz anders”, erzählt Martin. „Das Gebäude war ein dunkles, dreckiges Loch, überall lag Gerümpel herum und kaum etwas funktionierte richtig. Zwar gab es zwei Melkmaschinen, aber die Milch musste in den Kübeln vom Stall in die Sennerei getragen werden. In der Hütte herrschte Durchzug, das Butterfass musste mit Lumpen abgedichtet werden, der Feuerwagen und die Zentrifuge waren defekt. Die Wasserleitung, mit der der Strom für die Melkanlage produziert wurde, war immer wieder verstopft. Für mich war schnell klar, dass das ein kurzes Gastspiel wird.” Und warum hat der Senn dieses Gastspiel dann doch Saison um Saison verlängert? „Ich habe mich mit dem Hüttenmeister, der für das Personal zuständig ist, gut verstanden und auch mit dem Alpvogt, der für die Alp verantwortlich ist. Die haben eingesehen, dass mit einer schlechten Infrastruktur, veralteten Maschinen und ständig wechselndem Personal auf die Dauer kein guter Käse gemacht werden konnte.” Für die ersten Neuerungen - ein Rührwerk, einen Flaschenzug um die Käsemasse aus dem Chessi zu heben - griff Capaul noch in die eigene Tasche. Doch seither ist auf der Selva viel passiert: „In langen Diskussionen wurde klar, dass mit Flickwerk nichts mehr zu machen war, dass die schon damals immer höher werdenden Hygieneanforderungen nicht mehr eingehalten und dass auch die Wohnsituation für eine Familie mit Kindern eine Zumutung war.” Einen wie den Martin wollten die Bauern nicht verlieren, einen wie den Martin, der Jahr für Jahr Höchstnoten für den Alpkäse erhielt, hätten sie wohl auch nicht mehr so schnell gefunden.


Vals ist ohne Alpen undenkbar

Die Alp Selva ist eine von 14 Rinder- und Kuhalpen auf dem Gemeindegebiet von Vals. „Damit bieten wir vielen Bauern aus dem nahen Lugnez aber auch aus dem Unterland die Möglichkeit, ihre Tiere zu sömmern”, sagt Bernhard Vieli. Vieli ist als Gemeinderat zuständig für das Sömmerungswesen und überzeugt, dass Vals um einige Landwirtschaftsbetriebe ärmer wäre, wenn es die Alpen nicht mehr gäbe: „Irgendwohin müssen die Bauern im Sommer während des Heuens ihr Vieh tun – und wohin, wenn nicht auf die Alpen?”

Auch die Talsennerei mit ihren Arbeitsplätzen wäre mit weniger Bauern in Frage gestellt. Alpen sind bei den Unterländer Bauern auch begehrt, weil vor allem das Jungvieh in der Regel sehr robust und gesund von den Bergen zurückkommt. Doch Alpen sind viel mehr als ein sommerliches Zwischenlager für Rindviecher. „Vals lebt vom Tourismus”, sagt der Gemeinderat. Unsere Gäste kommen auch wegen der Wanderungen über Alpweiden, weil sie Tiere und gepflegte Kulturlandschaften sehen wollen. Vals und seine Bauern leben in einer Partnerschaft, denn Landwirtschaft und Tourismus – das ist ein Geben und Nehmen. Wer das nicht einsieht, ist fehl am Platz.”


Die ehrlichen Valser

Die Selva wurde also 1991/92 für 400’000 Franken an- und umgebaut. „Den allergrössten Teil dieses Betrags brachte die Gemeinde Vals auf”, so Capaul. „Aber auch die Schweizerische Berghilfe steuerte 30’000 Franken bei. Und das irrtümlicherweise gleich zweimal”, erinnert er sich. „Aber ehrlich wie wir Valser nun mal sind, meldeten wir diesen Irrtum. Bei der Berghilfe waren sie über diese Ehrlichkeit so erfreut, dass wir auch die zweiten 30’000 Franken behalten durften.” Die Bauern hätten mit dem Geld am liebsten die leere Genossenschaftskasse aufgefüllt. Doch Capaul liess wieder einmal seine Überredungskünste spielen und zu guter Letzt wurde die Summe in eine neue Rohrmelkanlage investiert. Martin lächelt leise, während er die Geschichte erzählt. Die Valser Bauern mussten die Investitionen nie bereuen: Seit Capaul auf der Selva ist, hat er jährlich etwa 700 Käselaibe und in 25 Jahren rund 100 Tonnen Alpkäse hergestellt und keine einzige Produktion ging in die Hosen. Wer heute Selva-Käse will, muss sich früh bei den Valser Bauern oder auf der Selva melden: Spätestens gegen Ende Oktober ist in der Regel die ganze Jahresproduktion ausverkauft.

Offen sein für Neues

Hat man nach einem Vierteljahrhundert nicht genug von der Alp? „Nein”, sagt Martin und fügt bei: „Doch damit es einem nie verleidet, gibt es gewisse Dinge, die man beachten muss.” So dürfe man in der Entwicklung nicht stehen bleiben. Für die Capauls bedeutet das etwa, dass sie alleine oder zusammen mit der Alpgenossenschaft immer wieder Verbesserungen an der Infrastruktur vor nehmen. Im letzten Winter war der Käsekeller dran: Neue Gestelle bieten mehr Platz und die Isolierung garantiert eine bessere Feuchtigkeit. Die wiederum soll sich in der noch besseren Käsequalität niederschlagen. „Irgendwie”, so Martin, „muss man sich selber fordern. Ein oder zwei Jahre lang als Älpler eine gute Leistung zu bringen, ist kaum ein Problem. Doch 25 Jahre lang immer Höchstleistungen zu bringen, darin liegt eine grosse Herausforderung.» Eine dieser Herausforderungen betraf die schnell verderbliche Alpbutter. Vor einigen Jahren hat Martin eine einfache, aber effiziente Methode erfunden, um diese zu pasteurisieren und somit länger haltbar zu machen. Apropos Butter: Als der Butterpreis von 15 Franken auf 4 oder 5 Franken einbrach, war es auch mit der Motivation nicht mehr weit her: „Man gibt sich riesige Mühe, um ein wirklich gutes Produkt herzustellen”, sagt Hedwig. „Doch dann soll es auf einmal nichts mehr wert sein und landet irgendwo in einer Butterschmelze. Nicht einmal unsere Bauern bemühten sich gross um eine andere Lösung. Damals hatte ich zum ersten und zum letzten Mal ein bisschen den Verleider.” Damals wäre der Traum, den auch Hedwig seit Kindheit geträumt hat, fast zum Albtraum geworden. Aber das ist Vergangenheit. „Inzwischen habe ich neue Absatzkanäle und Abnehmer gefunden, die die Qualität der Alpbutter zu schätzen und auch entsprechend zu honorieren wissen.”

Was bringt die Zukunft?

„Solange Hedwig und ich gesund bleiben, solange wir von den Bauern geschätzt und getragen werden und vor allem auch solange wir immer wieder auf die Hilfe der Kinder zählen können, bleiben wir”, so Martin. „Nicht nochmals 25 Jahre, aber immerhin, wir bleiben.” Aber es gibt auch Umstände, die weder die Valser Bauern noch Hedwig und Martin Capaul gross beeinflussen können: Die Landwirtschaftspolitik, die Aufhebung der Milchkontingentierung, ein Umdenken der Bevölkerung, was die Unterstützung der Berggebiete betrifft. Doch die beiden sind Optimisten. „Die Valser Kühe produzieren hervorragende Milch, welche in der Dorfsennerei, aber auch auf den Alpen wertschöpfend weiterverarbeitet wird. Gerade Alpkäse ist sehr beliebt und den können sie im Unterland noch nicht selber machen.”

Ausserdem zahlt es sich jetzt aus, dass Capaul weitsichtig war und die Bauern mit seinen Innovations- und Erneuerungswünschen manchmal sicher auch genervt hat. „Heute steht die Selva in Sachen Hygiene- und Qualitätsvorschriften makellos da. Wir erfüllen diesbezüglich alle Forderungen und grosse Investitionen stehen derzeit nicht mehr an.”

Die Selva wird und muss es weiter geben. Schon wegen der Touristen, die gepflegte Kulturlandschaften und nicht vergandete Bergtäler erleben wollen oder eben wegen der Unterländer, die nicht auf Alpkäse verzichten möchten und ein bisschen sicher auch wegen jungen Menschen wie Franziska Capaul. Die 14-jährige Valserin bindet gerade einer Kuh das hintere Bein hoch, um eine Fusswunde zu behandeln. Sie redet dem Tier gut zu, versorgt die Wunde und macht einen neuen Verband. Vorher hat sie im Stall gemolken. Wo sie das alles gelernt hat? „Beim Zuschauen”, meint die junge Frau. „Und irgendwie liegt mir das Alpen halt auch im Blut.”