Auf der neuen Ofenbank

Bis in zwanzig, dreissig Jahren werden von den heute knapp 4'000 Bündner Bauernhöfen, die 31% der Kantonsfläche bewirtschaften, vielleicht noch die Hälfte übrig sein. Wie lebt eine Bergbäuerin mit dieser Perspektive?


                        
                            
                        
                            
                                
                            
                        
    


                        
                    

                    
                

Elli ist soeben von einem internationalen Bäuerinnenseminar in Österreich nach Hause in ihr Bergdorf zurückgekehrt.
- Hallo Hans, toll die neue Ofenbank – die wird auch wieder gekostet haben.
- Elli, ich freue mich, dass du wieder hier bist. Wie war es?
- Interessant, bereichernd.
- Worum ging es denn eigentlich?
- Das Thema hiess «Eingerahmt» und es war viel von der EU die Rede. Kennst du den Spruch: Es ist Krieg und keiner geht hin? Genau so war die Stimmung unter den Bäuerinnen verschiedenster europäischer Länder: Wir sind in der EU – aber keine will hin. Sie alle fühlen sich durch die Rahmenbedingungen der EU verschaukelt und ich habe einen starken Willen gespürt, diese Bedingungen zu boykottieren, den Rahmen selber zu stecken.

Subsistenz als Lebensprinzip

- Habt ihr denn Alternativen aufgezeigt?
- Sicher, besonders aufschlussreich war ein Vortrag über Subsistenzwirtschaft.
- Was?
- Komm, ich erkläre dir das. Genau hier sehe ich Ansätze, Möglichkeiten, wie auch wir als Bergbauernfamilie in der Zukunft bestehen können.
 

Mit Subsistenz bezeichnen wir das, was notwendig ist für ein zufriedenes und erfülltes Leben, im Gegensatz zu Gewinnstreben, Konkurrenz, Konsumismus und Umweltzerstörung.
(Aus dem Informationsblatt des Instituts für Theorie und Praxis der Subsistenz e.V., Bielefeld)
Subsistenz: (von lat. subsistere, standhalten), das Substanzsein, das Bestehen durch sich selbst. (Kröner, Philosophisches Wörterbuch)
Subsistenz: (veraltet) a) (Lebens)unterhalt, materielle Lebensgrundlage; b) materielle Existenz.
Substanz:
1. a) für sich Seiendes, unabhängig (von anderen) Seiendes; b) das eigentliche Wesen der Dinge.
2. Das den Wert Ausmachende, das Wesentliche, Wichtige.
3. Das als Grundstock Vorhandene; fester Bestand. (Duden, Fremdwörterbuch)

 
- Hör mal, das ist mir zu kompliziert, mir fehlt der Bezug zur Realität.

- Musst du nicht mehr in den Stall ?

- Nein, für heute bin ich fertig. – Es hat geklopft. – Schau Elli, wer da ist: Der Fritz aus dem Unterland, hoi! Was für eine Überraschung! Hast du schon Ferien ?

Fritz: Leider nicht, ich habe nur ein verlängertes Wochenende frei, weil ich meine Überstunden kompensieren muss. Darf ich bei euch sein?

Elli: Klar, ich bin auch erst nach Hause gekommen und gerade daran, Hans vom Seminar in Österreich zu erzählen. Hört zu, ich lese euch einige Ausschnitte aus dem Vortrag von Veronika Bennholdt vor, bevor die Kinder nach Hause kommen:

«Die Menschen hier bei uns haben dem Weg von immer mehr technischer Rationalisierung, von immer mehr Konkurrenz und Anonymisierung auf dem Markt, von immer mehr Weltmarktorientierung statt Regionalmarktorientierung zugestimmt. Wenn es der grossen Wirtschaft gut geht, dann geht es uns allen gut, ist die Devise. Und die Leute glauben daran, sogar diejenigen, die am meisten darunter zu leiden haben: Die kleinen Selbstständigen, die verschwinden und zu billigen LohnarbeiterInnen werden, die Bauern und Bäuerinnen, denen dasselbe Schicksal widerfährt. Was ist passiert? Was beinhaltet die so breit geteilte Ideologie? Sie beinhaltet die Geringschätzung der Produktion für die eigene Versorgung, für den lokalen und regionalen Markt, die Geringschätzung der selbstständigen und selbstbestimmten Arbeit, und sie beinhaltet den Glauben, nichts sei besser als die Arbeit gegen Geld, die Lohnarbeit, mit der man sich sowieso alles würde kaufen können. Dass wir damit den grossen Kapitalien, den transnationalen Konzernen, auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind, beginnt uns langsam zu dämmern. (..)

Nun, die Globalisierung der Wirtschaft bedeutet, dass wir zum ersten Mal in der Geschichte an einem Punkt angelangt sind, an dem die Bauernschaft verschwindet.

In kürzester Zeit, wenn die Entwicklung so weiter geht, werden wir in Europa überhaupt keine Bauern und Bäuerinnen mehr haben. Was bedeutet das?

Auch wenn es den Kapitalismus schon lange gibt und die abhängige Lohnarbeit auch, so gab es dennoch gleichzeitig eine Schicht von Leuten, die sich dem entzogen, die Bauern nämlich, die ein Fundament darstellten, das auch der Lohnarbeit ein Stückchen von ihrem Glanz der Unabhängigkeit abgeben konnte: Entweder weil die Lohnarbeitenden immer noch wussten, dass sie auf das Land zurückkehren konnten, oder sogar weil sie ihre Versorgungsbasis durch einen kleinbäuerlichen Nebenerwerb sicherten, oder ganz allgemein, weil die Menschen einer Region wussten, dass andere hier Nahrung produzierten. Man war sich sozusagen immer noch nah und das gab zumindest Ernährungssicherheit. Das gilt heute gewiss nicht mehr. Vielmehr sind wir schon fast ohnmächtige ZwangskonsumentInnen der Produkte geworden, die die grossen Konzerne bestimmen: Denken wir nur an genmanipulierte Soja und ihre Derivate.»

Fritz: Heute ist dieser Abglanz der Landwirtschaft wirklich verloren, die bäuerliche Kultur in Europa meiner Meinung nach bereits untergegangen. Hornschlitten sind Sportgeräte, Werkzeuge von früher hängen als Dekoration in irgendwelchen Einfamilienhäusern..

Elli: Ja - ich lese weiter:

«Das Verschwinden der Bauern und Bäuerinnen bedeutet einen unglaublichen, einschneidenden Kulturumschwung und Geschichtsverlust in Europa. Die europäischen Kulturen sind von den Bauern, der bäuerlichen Ökonomie, dem bäuerlichen Leben und Denken geprägt worden. Ohne sie werden sie gesichtslos, ein transnationaler, maximierungswirtschaftlicher Einheitsbrei.»

Bergnomadin und Landschaftsarbeiter

Fritz: Das ist mir zu pauschal. Wenn ich mir die ‘bäuerlichen‘ Grossbetriebe in Deutschland, in Frankreich und zunehmend auch im Schweizer Mittelland vorstelle, so sehe ich auch da einen Einheitsbrei entstehen. Ist es schlimm, wenn dieser verloren geht?

Elli: Ja, ich denke, es ist schlimm, wenn die bäuerlichen Betriebe überhaupt eingehen. Die Grossen entstehen ja, indem sie die Kleinen auffressen, und zwar erfolgt diese Umstrukturierung unheimlich schnell. Dagegen möchte ich mich wehren, möchte mich zusammentun mit Leuten, die ähnlich empfinden.

Fritz: Vielleicht müssen wir bereit sein, uns auf eine neue Form der Betriebsorganisation in der Berglandwirtschaft einzustellen: Noch weniger Betriebe, die im Sommer mit ein- bis zwei Dutzend Kulturlandschaftsarbeitern aufgestockt werden. Diese kämpfen mit Motor- und Zweiachsmähern gegen Verbuschung und Vergandung, für Artenvielfalt und die Kulturlandschaft. Die heutigen Älplerinnen und Älpler, die vorwiegend aus den Agglomerationen und Städten kommen, machen das ja bereits vor. Vielleicht wird es künftig noch mehr solcher Berglandwirtschafts-Nomaden brauchen? Vielleicht werden sich daraus mit den Jahren neue Betriebsformen entwickeln, worin die Nomaden am Besitz der Landwirtschaftsgüter beteiligt werden und nicht einfach Saisonniers sind?

Elli: Ein interessanter Gedanke. Eventuell ergäbe sich daraus eine neue Form der Stufenbewirtschaftung,wie früher zwischen Talbetrieb und Alp, nur diesmal über viel grössere Distanzen, zwischen Stadt und Alp. So könnten vielleicht auch die Konsumentinnen und Konsumenten in den Städten direkt einbezogen werden.

Hans: Ach was! Am liebsten würden sie auch unsere Bergbauernbetriebe eingehen lassen. Dann kannst du, Fritz, dir dann überlegen, wohin es dich als stressgeplagten Städter zur Erholung verschlägt – und deine Landwirtschafts-Nomaden haben auch keine Bauernhöfe als Ausgangsorte mehr.

Fritz: Ich weiss, das tönt ketzerisch für dich, was ich jetzt sage: Ist Ausharren am Berg in jedem Fall positiv? Ist es nicht schon früher vorgekommen, dass sich ganzjährig bewohnte Güter in Maiensässe oder gar Alpen gewandelt haben?

Hans: Was weisst du schon vom Durchhalten und Ausharren?! Elli, die Subsistenzgedanken tönen da schon besser, nur ist mir deine Frau Doktor noch zu kompliziert. Erkläre mir das mit eigenen Worten.

 
Gesucht ist eine neue Wertschätzung

Elli: Ich kanns versuchen. Es geht dabei um die Wertschätzung; eine Wertschätzung der Nahrungsmittel, ihrer Produktion und Verarbeitung, um Achtung und Respekt vor der Natur, dem Boden, der Landschaft. In der Schweiz geben wir nur noch 10,5% der Ausgaben für das Lebensnotwendigste, für Nahrungsmittel, aus. Die Nahrungsmittel einer Region weisen eine bessere Qualität auf als importierte und solche, die lange Transportwege vom Produzenten über die Verarbeiter bis zum Konsumenten haben. Was wäre unser Dorf ohne Landwirtschaft? In kurzer Zeit unbewohnbar! Und ohne bewirtschaftete Alpen? Für den gängigen, mobilitätsgläubigen Tourismus zu wild und undurchdringbar, denk nur zum Beispiel an den Strassenunterhalt, Erdrutsche und Lawinen. Nicht zuletzt geht es auch um eine Wertschätzung der Arbeit von Bauern und Bäuerinnen, nicht nur durch andere, sondern auch durch sich selbst.

Hans: Und um die Wertschätzung des Geldes?

Elli: Die haben wir schon zur Genüge: auch wir Bauern unterwerfen uns dem Zwang, billiger und dafür immer mehr produzieren zu müssen – damit wir genügend Geld erwirtschaften – und geraten damit immer mehr in die Abhängigkeit vom Agrobusiness und vom Staat.

Fritz: Na, na, immerhin zahlen wir Nichtbauern euch Subventionen, nicht wenige, und diese neuerdings in Form von Direktzahlungen, die nicht mehr an eure Produktionsmengen gebunden sind.

Elli: Meinst du, wir könnten von unserem Betrieb leben, ohne Direktzahlungen oder Zuerwerb? Sicher nicht.

Hans: Mir ist bewusst, dass wir ohne Direktzahlungen nicht weiter bauern könnten, ich danke auch dir dafür, Fritz. Aber ich habe immer noch Mühe damit, dass diese Direktzahlungen eben nicht an unsere Produkte gebunden sind. Früher war ich richtig stolz darauf, ein schönes trächtiges Rind zu einem guten Preis verkaufen zu können. Und jetzt weiss ich gar nicht mehr so recht, wofür ich eigentlich arbeite.

Wir Bauern erscheinen den anderen als Privilegierte, die mit Steuergeldern versehen im Grünen wohnen können und es dennoch nicht schaffen, euch mit gesunder Nahrung zu versorgen, siehe Rinderwahnsinn.

Wege aus der Abhängigkeit

Elli: Jetzt sind wir wieder bei der Wertschätzung unserer Produkte, unserer Arbeit und unseres Lebens überhaupt angelangt – und bei der Abhängigkeit.

Hans: Abhängig meinst du? Wenn du zu deinen Hühnern gehst, wirf einen Blick in den Stall und sieh dir unser Mastkalb Hannibal an: 3 handtellergrosse Ohrmarken musste ich ihm eindrücken, vom Ohr ist nichts mehr zu sehen. Zum letzten Mal habe ich das so vorschriftsgemäss gemacht.

Elli: Du weigerst dich einfach? Und was, wenn uns niemand mehr unsere Mastkälber abkauft?

Hans: Dann suchen wir uns halt andere Abnehmer.

Elli: Genau, so sehe ich die Zukunft unserer Bergbauernbetriebe: Vernetzung von KonsumentInnen und Bauernfamilien – unter Einbezug von Tauschhandel; die Entstehung von Gemeinschaften zwischen Leuten, die ihrem Leben neue Werte geben wollen.

Hans: Aber du kannst doch nicht einfach das Rad der Zeit zurückdrehen und ohne Geld wirtschaften! Nur weil du das in einem Dorf in Bhutan, einem kleinen Land am Himalaya, miterlebt hast, wo die Bäuerinnen Land und Hof besitzen und weitervererben. Sie tauschen ihre Produkte ein und brauchen nicht einmal Geld, um die Steuern zu bezahlen, weil Steuern - noch - durch Arbeit abverdient werden können. Wie sollen denn wir Versicherungen, Steuern und alles andere bezahlen?

Elli: In Bhutan wurde mir eben bewusst, welchen Einfluss Geld hat, welches auch dort langsam ins Landesinnere sickert. Ich habe miterlebt, wie Geld die Stellung der Bäuerin verändert, ja untergräbt, und welche Einschränkungen es anstatt der vorgegaukelten Freiheit mit sich bringt.

Hans: Und wie stellst du dir das jetzt vor bei uns?

Elli: Die Frage ist doch nicht, Geld oder keines, sondern, wie wir mit dem Geld umgehen. Beispiele, wie Subsistenzwirtschaft auch in Europa funktionieren kann, findest du in diesem Subsistenzhandbuch hier, das ich mir in Österreich erstanden habe.

Fritz: Zeig her. - Hier haben wir ja ein gutes Beispiel:

«Anhand meiner Untersuchung der Gesellschaft von Juchitán, einer 80'000-Einwohner-Stadt im südlichen mexikanischen Bundesstaat Oaxaca gelegen, ging mir auf, welche Bedeutung dem Markt und dem Markthandeln mit Subsistenzgütern in Frauenhand für die Verteidigung bzw. das Errichten einer lokalen und regionalen Ökonomie zukommt. In Juchitán und in der pazifischen Küstenebene drumherum sind die Bäuerinnen Händlerinnen. Ackerbau und Viehzucht ist reine Männerarbeit, während die Frauen die Produkte verarbeiten und vermarkten. Sie gehen auch mit hinaus aufs Feld, vor allem rituelle Handlungen für das gute Gedeihen der Pflanzen sind Frauenaufgabe, aber ihr ureigentliches Arbeitsgebiet ist die Vermarktung, die reine Frauenarbeit ist. Männer haben in diesem Bereich nichts zu suchen.

Diese Tatsache hat zur Folge, dass sich in der Region von Juchitán eine lokale und regionale Ökonomie behauptet. Denn die Frauen sind zuallererst Handwerkerinnen, was die Verarbeitung und Zubereitung von Nahrungsmitteln angeht. Dieses Expertinnentum – jede hat ihre eigene Spezialisierung, was sich u.a. in Geheimrezepten niederschlägt, die in der Mutterlinie weitergegeben werden – ist die Basis ihres Erfolges als Markthändlerinnen. Deshalb halten sie auch unbeirrt daran fest. Damit hängt zusammen, dass sie sich mit den speziellen regionalen Rohstoffen versorgen, diese auch in der Region verarbeitet und hier auch genauso vermarktet werden. Für die Bauern ist es sinnvoller und im Ganzen lukrativer, ihre Produkte an die einheimischen Frauen weiterzugeben, als an Ankäufer für den grossen nationalen und internationalen Markt. Das beeinflusst natürlich auch die Art der landwirtschaftlichen Produktion: Die kleinstrukturierte, bäuerliche Kreislaufwirtschaft hat eine erstaunliche Resistenz gegen die wiederholten Wellen entwicklungspolitischer Einflussnahme für den Anbau von monokulturellen Weltmarktpflanzen. Das Ergebnis ist bemerkenswert: Den Menschen dieser Gegend geht es besser als in jeder anderen vergleichbaren indianischen Region Mexikos.»

Hans: Das gefällt dir wohl, Elli, diese emanzipatorischen Töne; geh doch zu den Indianern ...

Fritz: Sei nicht so böse, Hans. Das Beispiel ist eindrücklich, aber ich hätte auch lieber eines aus Europa, trotz Globalisierung.

 
Bio, oder doch nicht?

Elli: Ja schon, aber in mir drin bewegt sich so doch eine Ahnung einer Vision, darüber, wie auch wir vorgehen könnten. Die Autorinnen bringen deshalb viele Beispiele aus der Dritten Welt, weil sie überzeugt sind, dass dort die phantasievollsten Kämpfe für die Verteidigung der alltäglichen Versorgung und der Unabhängigkeit der lokalen Ökonomie von Frauen getragen werden.

Hans: .. die naturnah produzieren - und jetzt willst du mir einmal mehr weismachen, dass wir endlich biologisch wirtschaften sollen.

Elli: Nein du, ich verstehe deinen Widerstand, denke aber trotzdem, dass die Ökologisierung der Landwirtschaft ein Schritt in die richtige Richtung ist.

Fritz: Also ich verstehe deinen Widerstand nicht, Hans. Der biologische Landbau geht mehr als alle andere Landwirtschaft auf die Kreisläufe der Natur ein, weshalb ihn aus meiner Sicht jede echt naturverbundene Bauernfamilie übernehmen sollte. Kommt hinzu, dass der Bio-Landbau euch auch mehr Einnahmen bringt als der herkömmliche. Worauf wartest du noch, Hans?

Hans: Genau das Geld ist der Punkt, der mich stört: anstatt aus Überzeugung auf Bio umzustellen, machen es viele nur wegen des Geldes und mogeln sich dann irgendwie durch.

Elli: Es gibt immer und überall schwarze Schafe, das ist noch kein Grund, nicht mitzumachen. Abgesehen davon weißt du, dass unserem Betrieb ausser der Anmeldung gar nichts mehr fehlt.

Hans: Nein, ich weigere mich, mich noch mehr teilweise unsinnigen Vorschriften zu beugen. Zudem ist mir auch nicht klar, wie wir unseren ganzen Energieeinsatz mit den Naturkreisläufen unter einen Hut bringen; zum Beispiel einmal mit dem Traktor und der Spritze durchfahren oder zur mechanischen Unkrautbekämpfung x-mal fahren? Wie könnten wir überhaupt zum Energiesparen beitragen?

Fritz: Gute Frage, nachdem die Energievorlagen vom Volk verworfen wurden! Ohne Besteuerung des umweltbelastenden Energieverbrauches stecken wir in einer Sackgasse.

Elli: Denkt nur einmal an all die unsinnigen Transporte von Nahrungsmitteln kreuz und quer durch die EU und um die ganze Welt, nur um den Gewinn zu maximieren.

Was muss wohl, neben Tankerkatastrophen und der Klimaveränderung noch alles passieren, bis die Menschheit etwas gegen den masslosen Energieverbrauch unternimmt?

 
Wieviele Normen braucht die Alp?

Elli: Bleiben wir am Boden. Hans, was lief in unserem Dorf, während ich weg war?

Hans: Wir hatten Alpgenossenschaftsversammlung. Viel zu reden gaben die neuen Qualitätsvorschriften. Obwohl wir die Alpgebäude und die Käsereieinrichtung vor wenigen Jahren saniert haben, wurden vom Kontrolleur etliche Mängel festgestellt.

Elli: Was habt ihr Bauern beschlossen?

Hans: Eigentlich nichts. Die Frage war, ob wir die Vorschriften zumindest teilweise boykottieren sollen, oder ob wir uns mit einem zukünftigen EU-kompatiblen Einheitsalpkäse abfinden.

Elli: Kann man denn nicht reden mit diesen Kontrolleuren?

Hans: Wie denn, wenn die Kontrollen ohne Einbezug eines einzigen Genossenschaftlers, nicht einmal des Alpmeisters, durchgeführt werden? Du hast nur noch einen Stoss Papiere und eine lange Mängelliste in der Hand.

Elli: Solange wir unseren Alpkäse verkaufen und tauschen können mit Leuten, die unsere Alp und die Produktionsbedingungen kennen, können wir doch auf die Qualitätssicherung verzichten?

Hans: Offiziell dürfen wir den Käse gar nicht mehr verkaufen und die Verkäsungszulagen werden gestrichen – überall haben sie uns in der Hand.

Elli: Lass sie nur machen, je mehr wir sind, die sich weigern, die sich ungehorsam verhalten gegenüber den bürokratischen und planwirtschaftlichen Auflagen der EU und des Staates, desto bedeutender wird unser Lebensstil!

 
Selbstständig! In welcher Gemeinschaftsform?

Hans: Schau Elli, ich habe die Post der letzten Tage hübsch geordnet auf die Ofenbank gelegt. Zuoberst die Artikel, die mir wichtig scheinen. Da schreibt einer in der Bauernzeitung, dass eine Energiesteuer eingeführt werden müsste. Der Philosoph Hans Saner, so meldet die Bündner Zeitung, hielt in Chur einen Vortrag über die gegenwärtige Wertekrise in der Gesellschaft. Er sprach sich dabei für eine Wertevielfalt und gegen Einheitsmoral aus. Und die Bio-Suisse freut sich, dass schon fast 40% der Bauernbetriebe in Graubünden biologisch bewirtschaftet werden.

Im Bündner Bauer behauptet ETH-Professor Rieder, dass die neue Agrarpolitik nachhaltiger sei als die alte, allerdings auch, dass er mehr Ökonomie in die Agrarwirtschaft einbringen möchte.

Elli: Manchmal fühle ich mich schlicht und einfach überfordert, gewissen Gedankengängen zu folgen oder zu einer eigenen Meinung bezüglich Agrarpolitik, Abstimmungen und deren Auswirkungen zu gelangen. Es bringt aber nichts, Schuldige zu suchen, allein wir können uns verändern, mit Hilfe einer tatkräftigen Gemeinschaft, mit neuem Lebenssinn.

Fritz: Woraus schöpft ihr denn eigentlich? Eure Arbeit ist anstrengend, euer gesellschaftliches Ansehen nimmt ab, die Zukunft ist ungewiss.

Elli: Mich stellt die Natur auf, dass wir hier leben und arbeiten können. Und immer wieder treffe ich Leute, die ähnlich denken.

Hans: Und mir gefällt meine Selbstständigkeit!

Elli: Sag mal, Fritz, wir sind doch eigentlich gar nicht so daneben mit unseren Gedanken?

Fritz: Bedenken habe ich schon noch: Wenn du von regionalen Wirtschaftskreisläufen und EU-Boykott sprichst, Elli, so beschleichen mich auch Gefühle von regionaler Ein- igelung und engstirnigem Nationalismus.

Hans: Mir reicht’s, ich habe Hunger. Was gibt es eigentlich? Übrigens, was unsere neue teure Ofenbank betrifft: ich habe Simon dafür 3 Laib Alpkäse gegeben.

Der Tauschhandel ist perfekt, nicht?Elli geniesst die Stimmung, die sich während des Kochens in ihr ausbreitet. Sie schätzt die Diskussion mit Hans und Fritz und das gute Gefühl, sich seit dem Seminar in Österreich mit vielen Bäuerinnen vernetzt zu fühlen. Manchmal beschleicht sie aber auch ein leises Gefühl der Ohnmacht, so wenig zu wissen - aber auch Sehnsucht nach Gemeinschaft, Vernetzung, nach dem Finden von Sinn und Lebensglück. Für ihre Kinder hofft sie, dass sie ihre Wurzeln in der Verbindung mit der Natur und Landwirtschaft spüren.

Sie beschliesst, nach dem Essen und nachdem sie die Kinder ins Bett gebracht hat, nochmals mit Hans und Fritz zusammenzusitzen und die Visionen aufzuschreiben.

Auf der neuen Ofenbank, die Wärme des Stubenofens im Rücken spürend, beginnen sie zu notieren:

 
Ideen für die Berglandwirtschaft

  • Hochschulen: Erstellen von Modellen ‘Graubünden nach 10, 20 Jahren ohne Landwirtschaft’. Forschungsprojekt: Neue Stufenwirtschaft zwischen Stadt- und Berggebiet.

  • Plantahof-Seminar für Bäuerinnen und Bauern zum Thema Subsistenzperspektiven. Leitung: Institut für Theorie und Praxis der Subsistenz in Bielefeld.

  • Milchwirtschaftlicher Beratungsdienst/MIBD: Überprüfung der Kriterien zur Qualitätssicherung in Zusammenarbeit mit Bauern und ÄlplerInnen.

  • Bio-Landbau: Weg vom bürokratischen Formularkrieg, der vorwiegend Zustände beurteilt, hin zu einem Förderungsverfahren, das der Lebendigkeit der Landwirtschaft entspricht und Entwicklungen auf den einzelnen Betrieben noch besser unterstützt.

  • Landwirtschaftliches Bildungs- und Beratungszentrum Plantahof:

  • Aufbau einer Abteilung für Biolandwirtschaft, später Umstellung des ganzen Betriebes auf Bio-Landbau.

  • Aufbau einer Ausbildung für Berglandwirtschaftsnomaden/Landschaftsarbeiter.

Weit kommen sie nicht. Sie sind zu müde. Morgen, oder noch später vielleicht, helfen ihnen noch andere.
 


Literatur/Quellen

Veronika Bennholdt-Thomsen, Brigitte Holzer, Christa Müller (Hg.): Das Subsistenzhandbuch. Widerstandskulturen in Europa, Asien und Lateinamerika. Promedia Druck- u. Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien 1999

Veronika Bennholdt-Thomsen: Weltweiter Blick auf die Gegebenheiten der kleinstrukturierten Landwirtschaft und den Bäuerinnenalltag. Vortrag am internationalen Bäuerinnenseminar, November 1999 in St. Pölten, Österreich
Barbara Sulzer: Alp – hat das Holzjärb ausgedient? Bündner Bauer, 26. Mai 2000
Interview mit ETH-Professor Peter Rieder, Bündner Bauer, 24. März 2000

 
Autorin
Tina Joos-Bleuler
, 1952 in Zürich geboren und aufgewachsen. Ausbildung als Primarlehrerin und dipl. Ing. Agr. ETH. Tätigkeit an der ETH als wissenschaftliche Mitarbeiterin: Ethologie und artgerechte Tierhaltung. Sennerin auf Prättigauer Alpen. Seit der Heirat Bergbäuerin in Schuders, Hausfrau und Mutter von 3 Kindern.

Text stammt aus dem Buch:
Graubünden weiter als das Auge reicht
35 Autorinnen und Autoren denken vorwärts
320 Seiten Text, Fotos, Gedanken, Visionen
Paperback CHF 23.– (Porto bei Postbestellung 6.–)
Herausgeberin: Vereinigung Bündner Umweltorganisationen VBU