Bitte sprechen Sie mit Ihren Kühen

Ende August 2005 wurde ein Alphirt im Safiental von zwei Mutterkühen schwer verletzt. Das war der spektakulärste Fall einer ganzen Serie von Unfällen mit Mutterkühen in Graubünden. Bevor das Gras wieder wächst, sollte eine Strategie gegen die steigende Unfallgefahr auf Mutterkuhalpen gefunden werden.


                        
                            
                        
                            
                                
                            
                        
    


                        
                    

                    
                

«An dem Tag, als es passiert ist, habe ich die Kühe mit Kälbern zur Hütte hinunter nehmen wollen. Ich bin am Zaun gestanden, bin ruhig gewesen, habe nicht getrieben. Ich habe Zeit gehabt. Ich war auf Distanz. Die Kühe sind gelaufen und ich bin da oben gestanden. Und plötzlich ist die gekommen wie eine Kanone. Die hat mich zu Boden gedrückt mit dem Grind. Ich bin nicht mehr zum Aufstehen gekommen. Und dann ist eine zweite gekommen und hat mich mit den Füssen am Boden gestampft. Als die eine über mich hinaus ist, kam die nächste. Und danach kann ich nicht mehr alles sagen. Ob die nochmal gekehrt haben, oder ob noch eine andere gekommen ist, das kann ich nicht sagen. Die erste, die mich angegriffen hat, hatte drei Tage zuvor gekalbt. Das Kalb ist weiter hinten in der Herde gestanden während die Kuh die Herde angeführt hat. Die andere war nicht einmal frisch gekalbt, die haben einfach zusammengespannt. Ich habe einen Hund. Beim Unfall ist er weiter oben platziert gewesen und ist auch geblieben. Wie ich gelegen bin, habe ich gemerkt, dass mein Hund kommt, die Kühe zu vertreiben. Ich habe Angst gehabt, es könnte noch schlimmer werden, wenn sie schon aggressiv sind und jetzt der Hund noch hineingerät. Ich habe ihn rufen wollen, aber meine Lunge ist verletzt gewesen. Der Hund hat sie ein Stück weg getrieben, aber es ist eine Unruhe gewesen, ein Gesurr. Nachher ist dann der Hund gekommen, bei mir zu liegen. Ich habe dann noch die Rega um Hilfe gerufen. Das habe ich noch können, ich habe die Rega im Natel drin gehabt. Ich habe nicht viel gesagt, nur dass ich am Rossboden beim Gross Tobel bin. Und dass ich einen Unfall habe. «Safiental», das hat die Rega nicht mehr verstanden, das ist untergegangen, atmen und reden, das ist nicht mehr gegangen. Und Aufsitzen habe ich nicht können, das hat ja so weh getan. Fast alle Rippen sind kaputt gewesen, das Schulterblatt, und die Lunge hat einen Riss gehabt. Das Brustbein gerissen. Und ein Trümmerbruch am Bein vom Knöchel aufwärts. Anfangs Sommer habe ich da hinten ein Rind verloren, da habe ich auch den Heli haben müssen. Da ist der gleiche Flughelfer dabei gewesen. Und der hat irgendwie gewusst, das muss im Safiental sein. Rossboden und Gross Tobel haben sie verstanden, und da hat es beim Flughelfer klick gemacht.»

Eine traurige Regel bestätigt sich: Es muss erst schlimm kommen, bis ein schwellendes Problem öffentlich wird. Wir Älpler haben diesmal «Glück», denn der Unfall von Werner Heinz ist geschehen, ohne dass dem Hirten die klassischen Verhaltensfehler angehängt werden könnten: Werner Heinz ist Landwirt und hat ein Leben lang mit Rindern gearbeitet. Da die Söhne den Betrieb im Griff haben, geht Werner seit zwei Jahren zur Alp. Er ist ruhig, bescheiden und derart gewissenhaft, dass er vor seinem ersten Alpsommer sogar den Hirtenkurs am Plantahof besuchte. Werners Hund war zum Zeitpunkt des Unfalls zuverlässig in grösserer Entfernung abgelegt. Überhaupt war der Hund der Herde nicht als beissender, kläffender Stressfaktor bekannt. Der Hirt ging behutsam ans Zügeln der Tiere heran, die Herde war nicht in die Enge getrieben worden und es lag auch kein verstecktes Kalb im Gelände. Werner hatte den Sommer über beim Salzen daran gearbeitet, das Vertrauen der Tiere zu gewinnen. Er hielt sich an die Massgabe der Genossenschaft, die frisch gekalbten Kühe in Ruhe zu lassen, die beobachtete er nur mit dem Feldstecher. Und er kannte er jede Bemerkung, die auf dem Alprodel zu den einzelnen Tieren aufgeführt war. Trotzdem ein lebensgefährlicher Unfall aus heiterem Himmel. Warum hat sich das Haustier Kuh auf diese Art verhalten? Wo können die Tierhalter ansetzen, damit solche Unfälle vermieden werden?

Mutterkuh mit Kalb oder potentielle Unfallgefahr? © Silvio Guarneri

Produktionsfaktor Kuh

Im Gespräch mit Werner Heinz bekommt das Problem «aggressive Mutterkuh» etliche Facetten. Da ist zum Einen die Rasse. Für Werner ist es kein Zufall, dass die beiden am Unfall beteiligten Tiere Limousin-Kühe waren, die einzigen Limousin aus einer bunten Gruppe von acht Kühen. «Viel angriffiger» empfindet der Hirt die rote Rasse, die aufgrund ihrer leichten Abkalbungen als Fleischrind sehr beliebt ist. Bedenkliche Geschichten von «den Roten» hört man immer wieder auf den Alpen.

Dennoch schliesst sich nicht jeder Hirt dieser Meinung an. Einigkeit herrscht über den Einfluss der Haltungsform im Winter. Hier geht es nicht primär um Anbindung oder Freilauf, sondern um den Umgang des Tierhalters mit seinem Vieh. Das attraktive an der Mutterkuhhaltung ist eben, dass sich der Zeitaufwand zur Betreuung reduzieren lässt. Ein typisches Betriebsbild ist der Mutterkuhstall, in dem morgens und abends möglichst rationell gefüttert wird, so dass tagsüber Zeit bleibt zum Nebenerwerb. Die durch moderne Arbeitssysteme freiwerdende Zeit kommt fast nie dem betroffenen Betriebszweig zugute. Wer schneller füttert, hätte eigentlich mehr Zeit zum Striegeln. Wer automatisch entmistet, hätte eigentlich mehr Zeit zum Beobachten.

Werner Heinz schildert seinen eigenen Betriebsalltag, dass er während der Stallarbeit viel mit seinen Tieren spricht und sie häufig beiläufig anlangt. «Heute kommt man um den Freilauf gar nicht mehr herum. Und da liegt es am Landwirt, das ein bisschen zu steuern und sich mit den Tieren mehr zu befassen.» Die Aufforderung, sich Zeit zu nehmen, mit den Tieren zu sprechen und Vertrauen aufzubauen kommt auch von der SVAMH, der Schweizerischen Vereinigung der Ammen- und Mutterkuhhalter. Hier ist Umdenken gefordert. Leider fällt das manchen Tierhaltern schwer, geht es doch um den «Produktionsfaktor (Mutter-)Kuh», der nicht mehr 10'000 Franken wert ist sondern «nur noch» 2000. Das 9. Fleischrindersymposium im Januar 2006 am Plantahof steht unter dem Motto «Den Umgang mit den Tieren verbessern.»

Oh – hab' ich Dir gar nicht gesagt ...

Ein schockierendes Versäumnis, das im Zusammenhang mit dem Unfall im Safiental geschehen ist, aber auch anderswo immer wieder passiert, ist der unvollständige Alprodel. Es ist bereits anstrengend, wenn die Ohrmarkennummern auf der Tierliste schlampig geschrieben sind. Sind sie aber sogar falsch, fehlt das Beleg- oder voraussichtliche Kalbedatum der Kuh oder sind andere Hinweise z.B. zu Euterproblemen nicht eingetragen, dann wird dem Hirten die Arbeit massiv erschwert. Das ist schon allein im Sinne einer optimalen Tierbetreuung fahrlässig. Die zwei Kühe, die Werner schwer verletzt haben, waren beide bereits zu einem früheren Zeitpunkt durch Aggressivität aufgefallen. Nichts davon war im Alprodel vermerkt. Bösartige Tiere gehören selbst mit vollständig ausgefüllter Tierliste nicht auf die Alp. Alpweiden werden ausser von Klauentieren auch von Touristen begangen. Und diese kennen je länger je weniger das Verhalten einer währschaften Kuh, erst recht nicht, wenn sie ein herziges Kälbli führt. Sicher kann man Handzettel in Beizen auslegen und Warntafeln entlang von Wegen errichten, jedoch ist deren Nutzen begrenzt. Immer werden auch Leute mit flatternder Kleidung und freilaufenden Hunden fröhlich daran vorbeispazieren. Werner Heinz sieht im Ernstfall die Alpwirtschaft am «kürzeren Hebel»: «Wenn etwas passierte, dann könnte es nachher heissen, da darf jetzt kein Alpvieh mehr her, das ist jetzt für den Tourismus. Ich habe davor noch am meisten Angst, dass es so kommen könnte.» Freilaufende Hunde hat meistens auch der Hirt. Hier ist Erziehung und Disziplin geboten. Beim Durchqueren oder Umrunden der Herde geht der Hund bei Fuss, je nach Zuverlässigkeit auch an der Leine. Ruhig beim Menschen fällt er weniger auf. Im Notfall dann natürlich ableinen und hoffen, dass sich der Bless nicht vor Angst hinter dem Menschen versteckt... Werner schätzt das Zusammenspiel von Hund und Herde so ein: «Man kann eine Herde in einem Sommer auch versauen, und zwar am schnellsten, wenn man mit einem scharfen Hund dahinter geht. Mit einem guten Hund kann man aber durchaus mit Kühen arbeiten. Am Hund liegt es nicht. Ich bin überhaupt der Überzeugung, die meisten Fehler machen wir selber. Sei es mit dem Hund oder mit dem Rind!»

Eine Mutterkuh schützt ihr Kalb nicht nur vor Hirten und Wanderern, sondern auch vor anderen Gefahren, wie hier vor dem reissenden Wasser. © Peter Lüthi

Wird schon gutgehen mit dem Kalben ...

Warum ist es eigentlich so populär, dass Mutterkühe in der Alpzeit abkalben? Diese Frage muss man sich schon stellen, birgt doch jede Geburt auch ein gewisses Risiko. Die Kuh ausgerechnet zu jenem Zeitpunkt weit entfernt von daheim in unwegsamem Gelände und einzig unter der Aufsicht eines (unerfahrenen?!) Hirten allein zu lassen, ist im Grunde genommen unverständlich. Selbst wenn bei einer komplizierten Geburt «nur» das Kalb stirbt, so ist doch eine Mutterkuh ohne Kalb rein betriebswirtschaftlich ein Problem (während von Milchkühen mit totgeborenem Kalb immerhin noch Milch ermolken werden kann). Werner Heinz gibt ausserdem zu bedenken: «Wenn ich da einem berichten muss, Du, komm mal, da ist eine am Kalbern und es geht nicht recht vorwärts - was ist dann, bis der auf der Alp ist? Je nachdem, wo ich das Tier habe und es vielleicht nicht alleine in den Einfang bringe, geht es nochmal länger. Und wenn ich mir vorstelle, die Schmerzen, die ein Tier hat, wenn eine Geburt nicht vorwärts geht...» Das bevorzugte Abkalben im Sommer kann auch mit den Argumenten des hochwertigen Sommerfutters oder der gesundheitsfördernden Bewegung nicht gut untermauert werden. Etliche Tiere kalben, wenn sich die Alpweiden bereits wieder ins braunrote verfärben, und Auslauf kann man mit etwas Engagement in den meisten Fällen auch auf dem Heimbetrieb ermöglichen. Ein ganz nüchterner Umstand scheint viel direkter Einfluss auf das Kalbedatum der Mutterkühe zu nehmen: Die Viehzählung. Derzeit wird der Viehbestand eines Betriebes und damit die Höhe der GVE-bezogenen Direktzahlungen nach einem System ermittelt, das dem Mutterkuhhalter nahelegt, am 2. Mai zu jeder Kuh ein Kalb auf dem Betrieb zu führen. Nach dem 2. Mai gehen dann die 10-monatigen Kälber entweder z.B. als «Natura Beef» auf die Metzg, oder sie gehen zur Alp. In diesem System ist es logisch, dass eine Mutterkuh im Juli oder August abkalben sollte. Die Viehzählung wird so lange weiter mit dem Stichtag 2. Mai durchgeführt werden, bis die Meldungen über Zu- und Abgänge auf den Betrieben an die Tierverkehrsdatenbank (TVD) zuverlässig sind. Jene goldenen Zeiten, in denen dann sehr einfach der durchschnittlich über das Jahr gehaltene Bestand ermittelt werden kann, brechen laut Andreas Caduff vom LBBZ Plantahof frühestens im Jahr 2008 an.

Was tun mit den temperamentvollen Müttern?

Mehrere Alpen in Graubünden hatten schon vor dem «Unfallsommer» 2005 die konsequente Regelung gefunden, keine Abkalbungen auf der Alp zuzulassen. Die Tiere werden vor dem Kalben von der Alp geholt und anschliessend mindestens so lange auf dem Heimbetrieb behalten, bis sie das Kalb weniger stark beaufsichtigen (abhängig vom Charakter, etwa zwei bis drei Wochen). Eine andere Möglichkeit ist, sämtliche Kühe, die auf der Alp kalben, in sicher umzäunten und gut markierten Koppeln zu halten. Der Aufenthalt der Kuh im «Kalbeghetto» kann sich auf die ersten Wochen beschränken, kann aber auch den gesamten Alpsommer betragen. Hier bleibt das Risiko, dass Touristen die Koppel betreten, oder dass der Zaun nicht hält. Der Hirt soll derweil mit Feldstecher und Handy bewaffnet von aussen melden, wenn Hulda lahmt und Blüemli bläht... Das Markieren (oder gar Kastrieren) der frisch geborenen Kälber sollte auf gar keinen Fall in den Aufgabenbereich des Hirten fallen. Solche Regelungen treffen am einfachsten die einzelnen Genossenschaften. Um jedoch zu verhindern, dass eine bösartige Kuh dann statt auf die eine, eben auf die andere Alp kommt, müssen kantonal oder gar auf Bundesebene verbindliche Beschlüsse gefasst werden. Hier wäre eine Änderung der Alpfahrtsvorschriften angezeigt. Das bewährte Druckmittel Geld könnte ebenfalls zum Einsatz kommen: Eine Kuh, die im Alpsommer abkalbt, könnte mit höherer Alpungsgebühr veranschlagt werden als eine, die auf dem Heimbetrieb ihr Kalb bekommt. Eventuell könnte auch über gestaffelte Prämien der Unfall- und Haftpflichtversicherungen Einfluss genommen werden. Diese könnten honorieren, wenn auf Mutterkuhalpen Vorsichtsmassnahmen getroffen werden.

«Ich hoffe nur, dass der Unfall und die Zeit, in der ich da liegen muss und warten, bis wieder alles ist, dass das überhaupt auch etwas bringt. Dass das nicht umsonst ist. Und dafür muss man die Geschichte ein bisschen verbreiten und über Lösungen nachdenken.»

in Kalb streicheln und handzahm machen muss möglich sein, sonst braucht es keinen Hirten, sondern einen Tierwärter. © Silvio Guarneri

Ohne das geht man nicht hüten:

Was einfach da sein muss, bevor ein Mutterkuhhirt seinen Hirtenstecken überhaupt in die Hand nehmen sollte, ist schnell aufgelistet:

  • Ein fester Einfang, je nach Gelände mehrere auf der Alp verteilt. So ein Einfang besteht nicht aus Brettern sondern mindestens aus Rundholz und hat idealerweise einen Klauenstand.

  • Eine korrekte Tierliste inklusive Bemerkungen zur Vorgeschichte des Tieres plus Belegdatum.

  • Heutzutage ein Handy.

  • Sämtliche Medikamente und Verbandsmaterial, und zwar vor Alpladung, nicht einen Monat später.