Der Wolf ist tot – Handeln tut Not

«Niemand im Bergell will den Wolf!» – So der einmütige Tenor zwischen Maloja und Castasegna während der letzten Monate. «Er ist unnötig, nützt nichts und schadet bloss. Die Bestie reisst Schaf um Schaf und lässt sie tot oder halb lebendig auf der Weide liegen. Das Leben der Bergbauern ist auch ohne Wolf schwierig genug. Wenn er den Winter überlebt, hängen wir die Schäferei an den Nagel».


                        
                            
                        
                            
                                
                            
                        
    


                        
                    

                    
                

Anders tönte es bei den Naturschützern, etwa auf der Website von Pro Natura: «Der Wolf ist ebenso unnötig wie Vogelgezwitscher, wie der Steinbock oder wie das Matterhorn. Aber er ist ein Teil der Schöpfung, der leben will wie alles, das lebt. Und er kehrt heute in seinen angestammten Lebensraum, die Schweiz, zurück. Es ist seine Bestimmung, ein Beutegreifer («Raubtier») zu sein. Wer wollte so überheblich sein, zwischen lebenswerten und «unnötigen» Tierarten den Strich zu ziehen?»

An der Wolfsfrage scheiden sich die Geister. Grundhaltungen prallen aufeinander. Nach Ansicht des WWF könnte der Schutz der Herden den Konflikt lösen. Nach hundert Jahren ohne Wolf, Luchs und Bär ist die Haustierhaltung heute nicht mehr «raubtiertauglich». Die ungeschützten Herden sind ein gefundenes Fressen für den Wolf. Der WWF lancierte im letzten Januar ein Projekt, um gemeinsam mit Schafhaltern taugliche Schutzmassnahmen zu finden. Der Projektstart war harzig. Ohne reale Gefahr sahen die wenigsten Schäfer Grund zum Handeln. Kurze Zeit später war der Wolf da und der WWF musste sich vorwerfen lassen, er komme zu spät ... 

Ernstfall getestet

Die Raubtiergruppe des Bundes (KORA) und WWF-Aktivistinnen und Aktivisten errichteten Ende Juni sechs Elektrozäune. Aus diesen Gehegen hat der Wolf keine Schafe oder Ziegen geholt. Demnach könnten die Fixzäune eine wirksame Massnahme für die Koppelhaltung vor und nach der Alpsömmerung sein. Schwieriger ist der Schutz der Schafe auf der Alp. Ohne Hirten ist kaum etwas zu machen, das wurde im Bergell klar. Hirten müssen die Herden schonungsvoll und innert nützlicher Frist zusammentreiben können. Nachts und bei schlechtem Wetter sind sie aber machtlos gegen den Wolf. Denkbare Massnahmen wären Flatterbänder kombiniert mit stromgeladenen, mobilen Schafnetzen, Herdenschutzhunden oder Eseln.

Patentrezepte existieren nicht. Der Einsatz von Herdenschutztieren in den grossen und zusammengewürfelten Alpherden gibt etliche, komplexe Probleme auf. Aber wer nicht sucht, wird nicht finden. Es nützt nichts, den Wolf einfach abzulehnen. Denn seit er in Italien geschützt ist und der Rotwildbestand durch gezielte Massnahmen erhöht wurde, breitet sich die italienische Wolfspopulation aus. Seit 1995 wandern regelmässig Wölfe in die Schweiz ein. Die Berner Konvention verpflichtet die Eidgenossenschaft, alle notwendigen Massnahmen zu ergreifen, um die Populationen von seltenen und gefährdeten (Tier-)Arten zu erhalten. Dazu gehören Wolf, Luchs und Bär.

Der Mensch muss sich anpassen

Schutzmassnahmen werden Mehrarbeit bringen und die Alpschafe werden aufgrund vermehrten Treibens und Einpferchens weniger Gewicht zulegen. Für die Schäfer bedeutet das mehr Aufwand und weniger Ertrag. Aber gibt es einen anderen Weg? Der Wolf ist ein wildes Tier. Es liegt am Menschen sich anzupassen. Der Bund hat die gerissenen Schafe entschädigt und Schutzmassnahmen samt Hirtenlöhnen finanziert. Bleibt zu hoffen, dass die Schafhalter auch künftig auf diese Unterstützung zählen können; denn die Rückkehr der Grossraubtiere ist entsprechend der Berner Konvention ein sogenannt öffentliches Interesse. Doch Geld allein reicht nicht. Hier setzt das WWF Herdenschutzprojekt an. Einzelne Schäfer sind bereits eingestiegen. Sie wollen nächstes Jahr verschiedene Massnahmen testen. Hoffentlich mit Erfolg. Denn der nächste Wolf kommt bestimmt.


Peter Lüthi, WWF Herdenschutz Graubünden, Projektleiter und Galtviehhirt (sieben Sommer auf Alp Funtauna und Alp Preda-Sovrana)
Dieser Bericht erschien zum erstenmal im WWF Magazin, WWF Schweiz, November 2001, Regionalbeilage WWF Graubünden
 

Link zum Thema Wolf:

KORA Koordinierte Forschungsprojekte zur Erhaltung und zum Management der Raubtiere in der Schweiz