Gedanken zur Milchpreisdiskussion 2005

Die Milch wird billiger - wenn auch nicht im Laden und auch nicht in der Produktion - jedoch beim Abnahmepreis. Alle grossen Milchkäufer zahlen zukünftig und mittelfristig 2,4 bis 3,7 Rappen pro Liter weniger. Das bleibt nicht ohne Folgen auf die Arbeitsweise der Bauern und Kuhwesen im Berggebiet. Hier einige Gedanken zu Mensch und Milch.


                        
                            
                        
                            
                                
                            
                        
    


                        
                    

                    
                

Wer an den Wurzeln der Milchbauern frisst, zerstört langfristig seine eigenen Lebensgrundlagen

Mit Hilfe der Kuh wurde es uns Menschen möglich, dauerhafte Siedlungen zu errichten und den Ackerbau zu begründen. Stichworte wie Kreislaufwirtschaft und Bodenfruchtbarkeit mit Hilfe des Düngers der Tiere wurden längst breit diskutiert. Aus dem Naturwesen Mensch entwickelte sich das Kulturwesen Mensch. Die anfallende Milch wurde für uns Menschen ein Geschenk, wir verehrten sie in der Vergangenheit sogar als Heilmittel.

Milchkühe als Rohstofflieferanten

Heute ist dieses "Heilmittel" Milch zum Rohstoff verkommen, fast beliebig herstellbar, immer transportfähig und austauschbar, um sie am Ende an uns Konsumentinnen und Konsumenten pasteurisiert, homogenisiert, ultrahocherhitzt und tetraverpackt zu verteilen. Mit Milch im ursprünglichen Sinn hat diese weisse Flüssigkeit schon lange nichts mehr zu tun.

Die Leidtragenden an vorderster Stelle sind die Kühe, die einmal unsere Mitgeschöpfe waren. Durch künstliche Besamung, Embryotransfer, einseitige Zuchtauslese und Enthornung wurden sie zu Milchmaschinen degradiert. Was heute zählt sind Milchmenge und Milchinhaltsstoffe wie Fett und Eiweiss. Nach ihrer Höhe wird bewertet und bezahlt.

Wertschätzung von Milch

Werte und Preise sind nicht das selbe. Durch den viel zu tiefen Preis der Milch erhält die Milch auch einen sehr niedrigen Wert. Wir sollten uns einmal bewusst werden, wie viel uns „moderne“ Getränke wie Kaffee, Tee, Bier, Cola, Wein oder Wasser wert sind und wie viel wir dafür ausgeben. Welchen Stellenwert dabei Milch erfährt, ist uns allen bekannt. Es gibt Stimmen, die sagen, Milch sei kein Getränk sondern auch ein Nahrungsmittel und dies zurecht. Milch besteht aus hochwertigen Zuckern, Fetten, Eiweissen, Vitalstoffen und Mineralstoffen, und dies alles gelöst in Wasser. Der Wert der Milch erreicht heute leider nur einen Preis von Wasser, und das sollte uns zu denken geben.

Milch ist nicht gleich Milch

Wenn Milch aus dem Berggebiet mit Milch aus dem Talgebiet gleichgesetzt wird, haben wir in der heutigen Zeit im Berggebiet von vorn herein verloren und es ist nur noch eine Frage der Zeit, wie lange im Berggebiet noch gemolken wird.
Wenn wir es schaffen, die Unterschiede darzustellen und anders zu bewerten, haben wir eine Chance, dass es auch weiterhin Milch und Milchprodukte aus dem Berggebiet geben wird. Diese Diskussion über den Mehrwert der Bergmilch muss in Zukunft verstärkt geführt werden. Im Berggebiet herrschen andere Gesetzmässigkeiten als im Talgebiet, weshalb für Werte und Preise andere Massstäbe angelegt werden müssen.

Der Milchpreis ist nicht nur ein Marktproblem, er ist ein Kommunikationsproblem.

Wir müssen über angemessene Preise bei Lebensmitteln mit unseren Käuferinnen und Käufern reden. Was ist ein angemessener Preis? Wie viel oder wie wenig darf ein Lebensmittel kosten, wie viel oder wie wenig ist es wert, ist es uns wert?

Wenn mein Herz für kleine Strukturen schlägt, und im Berggebiet müssen wir topographisch bedingt in kleinen Strukturen denken, dann ist ein Gradmesser die Anzahl von landwirtschaftlichen Betrieben. Solange die Anzahl landwirtschaftlicher Betriebe im Berggebiet zurückgeht, solange stimmt etwas nicht am Preis-Leistungssystem der verkaufbaren Waren, von denen die Landwirtschaftsfamilien leben. Produkte aus dem Berggebiet, hergestellt in kleineren Systemen, haben demzufolge automatisch einen höheren Wert und damit einen höheren Preis. Wir alle sind im Berggebiet aufgefordert, diese Zusammenhänge tagtäglich mit denjenigen Konsumentenkreisen zu besprechen, die eine kleinräumige Landwirtschaft im Berggebiet wünschen. Wer trotzdem einen sinkenden Milchpreis fordert, hat nicht nur ein Marktproblem, auch wenn dies ständig medienwirksam verbreitet wird, sondern ein Vermarktungsproblem, und dies ist ein Kommunikationsproblem.

Fehlerfreundliche und fehlerfeindliche Systeme, abhängig vom Milchpreis?

Übertragen auf die Milchwirtschaft im Berggebiet bedeutet dies, je mehr Betriebe existieren, desto fehlerfreundlicher ist das System. Beispiel: Fällt ein Betrieb in einer Talschaft mit 10 Betrieben weg (=Fehler), kann dieser Betrieb (Fläche oder Milchmenge) kurzfristig von anderen mitbewirtschaftet werden (=fehlerfreundliches System), ohne dass die gesamte Talschaft gross gefährdet ist. Fällt ein Betrieb in einer Talschaft mit nur zwei Betrieben weg (=Fehler), bekommt diese Talschaft Probleme. Fläche oder Milchmenge kann nicht so einfach von anderen aufgenommen werden (=fehlerfeindliches System). Systeme, unabhängig von ihrer Art, sind stabiler, wenn sie sich auf mehrere Beine verteilen. Durch einen hohen Milchpreis fördern wir stabilere Gesamtsysteme im Berggebiet.

Der Milchpreis entscheidet mit über kleine und grosse Strukturen

Ein historischer Blick zu unserem grossen Nachbarn Deutschland zeigt uns interessante Beobachtungen. Seit den frühen 70er Jahren wird landauf landab argumentiert, dass nur "grössere" Betriebe (60 ha im Norden, 20 ha im Süden) überlebensfähig seien und Fusionen im Milchverarbeitungsbereich eine Sicherstellung von Milchpreisen bedeuten würde. Das Gegenteil ist der Fall. Heute sind die Betriebe in Landwirtschaft und Milchverarbeitung wesentlich grösser, die Milchpreise jedoch sinken weiter. Wo liegen die Denkfehler bei den Argumentationen von damals, die sogar heute noch geführt werden und scheinbar hier in der Schweiz reflektionslos übernommen werden?

Von unserer eigenen Doppelmoral

In Graubünden bewirtschaften über 50% ihre Betriebe nach den Anforderungen des ökologischen Landbaus. Wir alle sind froh darüber, wenn wir für die ökologischen Leistungen mehr Geld auf’s Konto bekommen oder mehr Franken über unsere Produkte direkt in unsere Geldbeutel fliessen. Ökologie bedeutet die "Lehre des Haushalts". Wenn wir jedoch selbst in die kleinsten Zellen dieses Ökosystems blicken, und das sind unsere Kühlschränke und Vorratsräume, dann entdecken wir zahllose Beispiele dafür, dass wir noch zu wenig bereit sind, selbst unseren Lebensmittelbereich mit Ökoprodukten zu bestreiten. Wir Menschen in der Landwirtschaft und Milchwirtschaft sind selbst Konsumentinnen und Konsumenten und sind es eigentlich unseren Kolleginnen und Kollegen schuldig, dass wir auch ihre Produkte abnehmen, so wie wir selbst froh sind, wenn unsere Produkte von anderen abgenommen werden.

Betriebswirtschaft lenkt den Milchpreis

Die klassischen Formen unserer heutigen Betriebswirtschaft begründen sich auf die Zeiten der industriellen Revolution. Es wurden Gesetzmässigkeiten gefunden, die bis heute noch ihre Gültigkeit besitzen. Diese Gesetze wurden in den 50er Jahren auch auf die lebendigen Bereiche wie die Landwirtschaft und Milchwirtschaft übertragen. Wenn mehr produzieren auch mehr Wert bedeutet, muss dies zwangsläufig in der Folge zur Ausbeutung von Boden, Pflanzen und Tieren führen. Unfruchtbare Böden, Monokulturen, Käfighaltungen und Ganzjahresstallhaltungen sind die Auswirkungen einer solchen Denkweise.
Wollen wir den Teufelskreis der Preisspirale nach unten durchbrechen, sollten wir in Zukunft Themen wie soziale Kosten, Input-Output-Gedanken, Kreislaufdenken, Energiefragen, Management, Betriebsmoral oder Wirtschaftsethik in der klassischen Betriebswirtschaft zulassen.

Wirtschaftswachstum und Strukturwandel

Gebetsmühlenartig tauchen täglich die Schlagzeilen auf, wir bräuchten mehr Wachstum in der Wirtschaft. Wachstum ist ein Begriff aus der Biologie und nur denkbar im Zusammenhang mit Sterben. Wir brauchen nicht Wirtschaftswachstum, wir brauchen Wirtschaftserhaltung. Das Wachstum der einzelbetrieblichen Milchmengen in der Vergangenheit hat uns flächendeckend zu Milchkontingentierung und Wertezusammenbruch geführt. Krampfhaft wird seit Jahrzehnten versucht, dies durch grössere Betriebe und höhere Erträge zu kompensieren. Ein Strukturwandel hin zu grösseren Einheiten scheint gesetzesmässig vorgegeben zu sein. Geht es uns nun durch Wirtschaftswachstum und Strukturwandel besser als zuvor? Ein sinkender Milchpreis beschleunigt den Strukturwandel zu immer grösseren Einheiten, was zeitverschoben immer grössere Probleme mit sich bringt.

Erst geht die Kuh, dann geht der Gast

Wenn die Milchpreise sinken, ist die Milchproduktion im Berggebiet in Gefahr. Jeder Betrieb, der im Berggebiet die Milchproduktion aufgibt ist ein Verlust, ein Verlust für die Milchverarbeitung auf den Alpen, den Talkäsereien und der ganzen Tourismusbranche. Milch und Milchprodukte aus den Berggebieten geniessen bei den Gästen einen sehr hohen Stellenwert, den sie auch bereit sind durch einen Mehrpreis abzugelten. Wir dürfen die Auswirkungen auf das ganze System Lebensraum Alpen nicht unterschätzen, wenn die Milchwirtschaft im Berggebiet weiter zurückgeht.

Weniger Milch für mehr Milchgeld

Unsere gegenwärtigen Probleme in der Landwirtschaft wie Zentralisierungen, Fusionierungen und flächendeckendes Sterben von kleinen Höfen und handwerklichen Verarbeitern sind auch zurückzuführen auf die "Übermilch". Durch zu viel produzierte Milch in der Vergangenheit entstanden Milchpreisstürze und danach Milchpreisstützungen. Die Auswirkungen können wir heute tagtäglich in den Medien verfolgen.
Wir brauchen für Milch dringend ein anderes, ein neues Bewertungssystem, das sich schrittweise abkoppelt von der zu einseitigen Sichtweise der Mengenbezahlungen. Milch muss wieder einen Wert bekommen, damit irgendwann einmal auch der Preis wieder stimmt. Wir brauchen in Zukunft stärkere Differenzierungen von den verschiedenen Milchen. Mit unterschiedlichen Bewertungssystemen von Silomilch und silofreier Milch, mit Biomilch und konventioneller Milch wurden in der Vergangenheit schon Versuche unternommen, diesen Erkenntnissen Rechnung zu tragen. Wir dürfen jetzt nicht stehen bleiben und der Dinge harren, die da kommen. Neue Denkansätze sind gefragt.


Martin Bienerth, Milchkäufer der Dorfsennerei in Andeer, wo er gemeinsam mit seiner Frau Maria Meyer ca. 360'000 Liter Milch pro Jahr verarbeitet und vermarktet.