Vom Zahnarzt zum Alchimisten

Vom Zahnarzt zum Alchimisten – ein Blick hinter die Kulissen der ukrainischen Käseproduktion. Mit 13 gewonnen Medaillen an den World Cheese Awards mausert sich die Ukraine zur ernstzunehmenden Produzentin hochwertiger Käsespezialitäten.


                        
                            
                        
                            
                                
                            
                        
    Das Käselager von Igor Reva


                        
                    

                    
                
Das Käselager von Igor Reva

«Sechs Monate habe ich mir in der Bibliothek alle Theorie über Käseproduktion angeeignet», erklärt Igor Reva. Seine Käseproduktion im ukrainischen Gorodotsky bei Lemberg (Lviv) ist über eine holprige Piste zu erreichen – im kleinen Dorf laufen Hühner und Gänse herum. «Weitere sechs Monate», fährt er fort, «habe ich experimentiert, bis ich den ersten geniessbaren Käse herstellen und noch einmal sechs Monate, bis ich ihn verkaufen konnte.» Reva redet eher wie ein Koch als wie ein Käser. Seine Gesten sind schwungvoll, seine Worte voller Witz und Ironie, manchmal lacht er einfach laut raus und freut sich daran, die Leute zum Staunen zu bringen. Mit seinem Bass vermag er die Schulklasse, die im selben Raum unter Anleitung seiner Frau Solomiya Bratakh unterschiedlich gewürzte Weichkäsekugeln herstellen, bei weitem zu übertönen. Seine Käserei nennt er «Pumpkin Paradise» – «Kürbisparadies». Sein Hund, den er als kleiner Knabe hatte, ist Namensgeber, nicht etwa ein Kürbiskäse.

Mundwerk auf eine andere Art

In Wahrheit ist Igor Reva Zahnarzt. Zu tüfteln und Mundgerechtes zu produzieren motivierte ihn nach einigen Jahren Berufspraxis mehr als in Mündern zu bohren. Autodidakt ist er aus der Not. Es mangelt in der Ukraine an einem Ausbildungssystem für spezialisierte landwirtschaftliche Berufe. Quereinsteiger für die Herstellung höherwertiger Produkte sind hier keine Exoten, sondern eher die Regel. Angefangen hat er mit der Produktion von täglich 10 Kilogramm Hartkäse respektive einer verarbeiteten Milchmenge von 100 Litern. Das war eine Herausforderung, insofern Hartkäse in der Ukraine keine Tradition hat. Bisher produzierte das Land vor allem Hütten- und Weichkäse in Massenproduktion. Da hat Reva ganz andere Ambitionen. Die dafür erforderliche hochwertige Milch muss er zum Preis von 50 Rappen pro Liter – also zum gleichen Preis wie in der Schweiz – ankaufen. In den Verkauf gehen die Käse zu umgerechnet 12 bis 20 Franken pro Kilogramm

Drei Jahre tüfteln für den Spezialkäse Hoverla

Aus dem Rahmen der traditionellen Weichkäseproduktion fällt ein Käserezept aus der Überlieferung seiner Grossmutter. An diesem Hartkäse hätte sich sich Igor Rava fast die Zähne ausgebissen. Drei Jahre hat er gebraucht, um die Ingredienzien und die Machart des kegelförmigen, nach einem Berg aus den ukrainischen Karpaten benannten «Hoverla» zu einem befriedigenden Ergebnis zu führen. Sechs Monate lässt er ihn jeweils mindestens reifen, teils lässt er ihn weitere acht bis sechzehn Monate liegen. Insgesamt setzt Reva drei verschiedene Sorten von Schimmel ein.

Obwohl die Oblast Lviv ganz im Westen kaum vom Krieg betroffen ist, setzt ihm dieser wirtschaftlich zu. Vor dem Krieg verarbeite er in der Käserei 1,5 Tonnen Milch täglich, nach Kriegsbeginn brach dieser auf 500 Kilogramm pro Woche ein, jetzt ist er wieder bei 1,5 Tonnen pro Woche. Wie viele andere Käseproduzenten bereiten ihm die Stromausfälle Probleme, die Ausfälle in der Kühlkette versucht er mit Generatoren auszugleichen, muss aber deswegen trotzdem wiederholt Verluste hinnehmen.

Die Degustation – eine kleine Performance

Feierlich kredenzen seine Frau und er zur Käsedegustation eine Bowle. Die Rosenkonfitüre, wahlweise mit Honig und ohne, stammt aus dem Eigenanbau von 2,5 Hektaren Rosen und ist eine süsse Versuchung, welche die Käsedegustation ideal ergänzt. Dass das Paar wie Käsesommeliers durch die Verkostung führen und das Publikum dramaturgisch gekonnt vom jüngeren milden bis zum würzigen, lang gereiften Käse geleiten, ist der aus der Schweiz vermittelten Präsentationstechnik zu verdanken.

Während seine Frau die Finanzen im Griff hat, blüht der geborene Verkäufer Igor Reva beim Präsentieren mit blumigen Worten auf. Die Käse verraten Experimentierfreude und beinhalten Tintenfisch, Heidelbeeren, Kräuter, Cassis oder Wachholder, sind unterschiedlich gereift und reichen von weich bis halbhart und hart. Der sehr würzige, über zweieinhalb Jahre gereifte Käse «Dämmerung» lässt die Gruppe dahinschmelzen. An einer internationalen Käsemesse hat er jüngst eine Silbermedaille dafür gewonnen – eine ebensolche hat eine weitere Eigenkreation ergattert. Die Probierrunde überrascht Igor Reva mit einer mit Pfeffer beschichteten Kugel, die er mit der sehr rässen Belper Knolle vergleicht. Woher er diese selbst vielen Schweizern nicht bekannte Spezialität kennt, verrät er nicht.

Igor Reva in seiner Käserei «Pumpkin Paradise»
Igor Reva in seiner Käserei «Pumpkin Paradise».
Qualitätsförderung Milch und Käse

Wer in der Schweiz Milch verkaufen will, muss bei der regelmässigen Rohmilchprüfung Normen bei Zellzahl (Indikator Eutergesundheit) und Keimzahl (Indikator für Sauberkeit der Milchgewinnung) erreichen. Es gilt nur erfüllt oder nicht erfüllt. Erfüllt heisst für den Verkauf, nicht erfüllt heisst Tierfütterung oder wegschütten. Das ist auch in der EU nicht anders. Als Manon Schuppers, Spezialistin für Tiergesundheit und Co-Geschäftsleiterin einer Schweizer Beratungsfirma (SAFOSO), sich 2016 des Milchqualitätsprojekts in der Ukraine annahm hat sie eine andere Systematik entwickelt.

«In der Ukraine wurden traditionell fünf Qualitätsstufen definiert, aber nur die oberste, ‹extra grade›, erfüllt die EU-Norm», erläutert sie, «und darf damit für den Export verkäst werden.» Die Milchqualität hat sich mit Anwendung von verstärkten staatlichen Regulatorien, Kontrollen und Weiterbildungsprogramm stark verbessert. Vor zehn Jahren haben lediglich zehn Prozent der ukrainischen Milch die oberste und damit EU-Norm erreicht. Heute liegt der Wert bei 50 Prozent. Im Inland dürfen vorerst noch die obersten drei Stufen zum Verkauf angeboten werden, doch soll auch hier die EU-Norm zur unerlässlichen Voraussetzung für den Handel und Verkauf werden. Das Bild der Kühe von Selbstversorgern, die neben der Strasse angepflockt weiden, dürfte damit verschwinden. Der Anschluss an die EU mit mehr Qualität und Spezialisierung hat eben ihren Preis.

Geschäftsmodell funktioniert trotz Krieg im Osten

«Für einen Verkauf über Supermärket ist unser Pumpkin Cheese Factory zu klein», meint Igor Reva zu seinen Absatzmöglichkeiten. «Wir wollen, dass die Leute zu uns kommen, setzen auf Direktverkauf und hoffen, dass wir einst wieder Touristen ansprechen können», erklärt er. Abgesehen davon, dass die aktuelle Situation keine Planungssicherheit bietet und sie sich von Woche zu Woche durchkämpfen, geht es dem Paar mit einem kleinen Sohn derzeit gut. Wie der Käsetüftler verrät, kann er heute trotz Stromausfällen und anderen kriegsverursachten Widrigkeiten gleich viel verdienen wie noch als Zahnarzt. Solange ihm seine Ideen nicht ausgehen, will der geborene Conférencier und Tüftler keinesfalls aufgeben.


Oleg und Anna Temchyshyn mit Kuh Syrka.
Oleg und Anna Temchyshyn mit Kuh Syrka.
Leidenschaft für Jerseykühe in Selysko

Im 70 Kilometer entfernten Selysko liegt der Milchkuhbetrieb Agrotem von Oleg and Anna Temchyshyn. Gegründet wurde der Milchkuhbetrieb vor 100 Jahren von einem reichen Polen, dann haben die Anna und ihr Mann ihn übernommen und Jerseyrinder zu züchten begonnen.

«Bei uns in der Ukraine ist der Respekt vor unserem Beruf nicht so ausgeprägt», erklärt sie, und gibt nicht im Geringsten zu erkennen, dass ihr das zusetzen würde. Sie liebt ihre Kühe. Die studierte Ingenieurin betont, dass ihr das Flair für Analysen, Zahlen und Entwicklung auf der Milchfarm bestens zugutekommt. «Ich geniesse es darüber hinaus auch, mich phasenweise als Veterinärin zu fühlen», sagt sie, «denn die Tiergesundheit liegt mir sehr am Herzen.» Beim Stallrundgang ist zu spüren, sie liebt ihre Tiere.

Neben vielen wegen des hohen Milchfettgehalts in der Käseproduktion besonders beliebten Jerseykühen stehen auch Simmentaler und Fleckvieh im Stand. Stolz ist sie auf ihre Simmentaler Kuh «Sirka Star», die nach der neunten Laktation noch immer 50 Liter Milch pro Tag gibt. Der offene Stall, in dem das Tier mit Dutzenden anderen Milchkühen angebunden ist, verfügt über einen knapp bemessen Kurzstand. Allerdings erhalten die Tiere auch Auslauf – eine Herde ist gerade draussen am Grasen. Gemolken werden die Kühe über ein konventionelles Melksystem, der Knecht eilt von Kuh zu Kuh und legt ihnen die Melkgeschirre an. Das Ehepaar Temchyshyn kann seine Milch gleich in unmittelbarer Nähe in die Käserei geben.


Viktoriia und Jaroslav Knysh mit ihrem ukrainischen Cheddar.
Systematische Käseproduzentin Viktoriia Knysh

Und die befindet sich gleich in Sichtweite des Bauernhofs. Viktoriia und Yaroslav Knysh, ein befreundetes Ehepaar, wurde von der Wirtschaftskrise 2013 dazu gezwungen, ihr Geschäft mit dem Verkauf von Baumaterialien aufzugeben. Anders als Zahnarzt und Autodidakt Igor Reva hat Viktoriia die Käseherstellung in verschiedenen Ländern im Ausland erlernt.

Gestartet ist das Paar mit ihrer Molkerei Lviv Jersey Creamery im Ende 2013. Während Viktoria die Käseproduktion mit drei lokalen Angestellten bewältigt, wickelt Yaroslaw die Logistik ab. Heute empfängt Viktoriia eine grosse Delegation von Gästen mit Beteiligten aus dem Schweizer Quality-Food-Trade-Programm (QFTP). Bei dieser Gelegenheit weiht die Delegation den erst jüngst erstellten Neubau mit einem Rundgang in der Produktion und einer Käsedegustation ein. In den zehn Jahren seit ihrer Gründung hat die Molkerei «Jersey» eine beachtliche Produktlinie entwickelt: Butter, Milch, Joghurt sowie frischen und gereiften Käse. Ihre Käse und Joghurts werden nicht nur in der Westukraine, sondern der ganzen Ukraine geschätzt.

Viktoria ist keine Alchemistin wie Igor Reva, sondern eine sehr systematische Käseproduzentin und will alles von der Pike auf von den Profis erlernen. Von der Offenheit eines polnischen Lehrmeisters wie auch der Franzosen ist sie begeistert, in Italien wollte man ihr zu ihrem Leidwesen nicht alles offenlegen. Ihre Fähigkeit als Käserin will sie immer wieder aufs Neue unter Beweis stellen. 2023 nahm sie an einem Onlinekurs zur Produktion von Cheddar Cheese teil. «Ich sah dann aber ein, dass das Handwerk ohne Geruch, Geschmack und das Haptische nicht zu erlernen war – dank der Unterstützung der ukrainischen Organisation Pro Cheese habe ich dann aber einen Käsehersteller in England besuchen können», erzählt sie. Mit Stolz hält sie der Delegation beim Rundgang einen gut gereiften Cheddar-Laib aus Eigenproduktion entgegen.

Kriegswiderstand fürs Marketing nutzen

Es ist Oksana Tschernowa, Gründerin der mit dem Schweizer QFTP-Programm eng verbundenen Pro Cheese Academy, die die Degustation leitet und Erläuterungen abgibt. Sie und weitere Vertreterinnen ihrer Organisation tragen T-Shirts mit der Aufschrift «Freedom tastes great». Warum auch nicht aus der Kriegssituation das Beste fürs Marketing machen, mag sich ein mancher denken. Das T-Shirt ist auch ein Statement dafür, sich nicht einschüchtern zu lassen und an der eigenen Überzeugung und Arbeit unverdrossen festzuhalten. Oksana Tschernowa ist stolz darauf, dass die ukrainischen Produkte im letzten Jahr an den World Cheese Awards 13 Medaillen gewinnen konnten. «Und dies obwohl die Fachwelt zuvor kaum wusste, dass wir eine kleine innovative Käseproduktion haben und diese sich rasant entwickelt.»

Auch ihre Degustation folgt einer ausgeklügelten Dramaturgie mit zahlreichen Spezialitäten. Sie gibt auch immer wieder Informationen dazu, wozu die verschiedenen Käse passen, sei es zu Essen oder Wein. Werden in der Schweiz Käsedegustationen in der Regel ohne begleitende und ergänzende Aromenträger kredenzt, scheint die Kombination besser zum ukrainischen Selbstverständnis zu passen.


Quelle: Mediendienst Landwirtschaftlicher Informationsdienst LID (14. Juni 2024), www.lid.ch